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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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auf dem Hof und
hat es geschliffen. Und rief mir zu, daß es einem angst werden konnte: ›Damit
ich endlich mit einer großen Ratte quitt werde, Mrs.   Hardcastle!‹ Ich wünschte,
er wäre mit allen zusammen quitt. Ich wünschte, es gäbe keine Ratten mehr hier.
Ich höre sie quietschen, nachts in meinem Kopf.«
    Da wird einem warm ums Herz, bei der Alten. Sybil fragte noch, schon
ein wenig kleinlaut: »Kann denn Mr.   Hardcastle nichts dagegen tun?«
    Mrs.   Hardcastle blickte sich ängstlich um. Ihr Flüstern wurde noch
heiserer. »Hardcastle ist kein guter Mann!«
    Das glaubte ich ihr aufs Wort. Aber ich war mir auch sicher, daß
jede nähere Bekanntschaft mit den häuslichen Untaten der Hardcastles alles
andere als erquicklich sein würde, und ich schoß die Billardkugeln mit Macht
über den Tisch, in der Hoffnung, daß das für Ablenkung sorgen würde. Doch die
Musik der Kugeln hatte ihre Anziehungskraft verloren. Ohne jede Vorwarnung
hatte die gräßliche Alte mit ihrer klauigen Hand Sybil beim Arm gefaßt. »Und
weswegen?«
    Auf diese Frage wußte keiner von uns beiden eine Antwort. Doch Mrs.   Hardcastle ließ uns auch gar keine Zeit dazu. Sie senkte die Stimme noch weiter
zu einem unglaublichen Krächzen. »Das sind die Ratten!«
    »Die Ratten!« entgegneten wir wie aus einem Munde, verdattert.
    Das emphatische Nicken beschränkte sich diesmal nicht auf ihren
Kopf, sondern erfaßte den ganzen Körper: wenn ich es aus meiner Kindheit noch
recht im Gedächtnis habe, war das genau die Art, wie sich die Hexen und bösen
Geister im Weihnachtsmärchen auf der Bühne schüttelten. »Ich habe mir schon
Vorwürfe gemacht, daß ich Sie gestern abend nicht gewarnt habe. Es gibt
entsetzlich viele Ratten auf Erchany.«
    Thema mit Variationen. Auf, Muse, laß uns von Ratten singen. Und
Mrs.   Hardcastle fuhr fort, in immer eindringlicheren, beschwörenderen Worten:
»Die Ratten. Seit Jahren setzen sie meinem Mann schon zu. Das Wesen der Ratten,
das geht in ihm um! Nachts, da tanzen sie in seinem Kopf und quietschen – die
gräßlichen Biester. Er ist ja selbst schon halb zur Ratte geworden, und er
spürt es. Deshalb ist er so grausam. Was soll nur aus uns werden? Nachts liege
ich im Bett, Miss, und es gibt Tage, da tanzen sie in meinem Kopf, und Tage, da
tanzen sie in seinem. Aber von Tag zu Tag wird mein Mann mehr wie eine große
graue Ratte, und was soll das werden, wenn man Mensch und Ratte nicht mehr
auseinanderhalten kann?«
    Mrs.   Hardcastle, das wirst Du schon gemerkt haben, hat eine Art,
peinliche Fragen zu stellen, die in einem skandinavischen Drama aus dem vorigen
Jahrhundert besser aufgehoben wären. Zugleich hat sie aber auch, was das
psychologische Einfühlungsvermögen angeht, etwas geradezu Geniales, und mit
ihrer Unterhaltung, auch wenn thematisch ein wenig begrenzt, beschwor sie jene
düster-geheimnisvolle Stimmung neu herauf, die uns am vergangenen Abend
gefangengenommen hatte. Ich holte eben zu der Frage aus, welche Wirkungen denn
die Ratten von Erchany auf den tumben Tammas hätten, als Sybil ganz
unvermittelt sagte: »Ist eigentlich der Doktor gekommen, Mrs.   Hardcastle?«
    Ich vermerkte anerkennend, daß auch Sybil sich mit dem Doktor
beschäftigt hatte; interessanter noch, daß sie mit ihrer Frage nichts
bezweckte. »Der Doktor, Miss?«
    »Ich dachte, Sie hätten ihn gestern abend erwartet.«
    »Oh nein, Miss, wir erwarten nie jemanden auf Erchany. Dr.   Noble aus
Dunwinnie ist der Arzt der Familie, aber der ist schon seit zwei Jahren nicht
mehr hier gewesen – nicht mehr seit damals, als Miss Christine sich die Hand
verstaucht hatte. Es waren ein paar Ärzte hier, vor ein oder zwei Jahren – ich
habe Ihnen schon davon erzählt –, und der Herr hat sie nicht gerade freundlich
aufgenommen. Waren Sie erwartet?«
    Die Frage verriet uns, daß Mrs.   Hardcastles Wahrnehmung, wenn man
erst einmal die Sphäre der Nagetiere verließ, begrenzt war. Unsere Ankunft,
versicherten wir ihr, sei ganz außerordentlich unerwartet gewesen. Worauf sie
erst den einen, dann den anderen von uns mißtrauisch musterte und sich dann
wieder an Sybil wandte. »Ich dachte nur, wo Sie doch eine Verwandte des
Gutsherrn sind –«
    Doch in diesem Augenblick schoß Sybil, deren Interesse verflogen war
und die sich wieder dem Billard zugewandt hatte, eine Kugel mit solcher
Vehemenz gegen die Kante, daß sie hochhüpfte und die alte Mrs.   Hardcastle genau
in die Magengrube traf.
    »Oh, Mrs.   Hardcastle, das

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