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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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tut mir aber leid –«
    Mrs.   Hardcastle hob die Kugel wieder auf und betrachtete Sybil
anerkennend. Ihre Stimme nahm wieder den vertrauten Tonfall an, heiserer denn
je. »Hatten Sie eine Ratte gesehen, Miss? Es gibt so viele Ratten hier auf
Erchany, das ist entsetzlich.«
    Und damit, Diana, hättest Du Mrs.   Hardcastle ausgiebig
kennengelernt: wenn es noch andere Seiten ihrer Persönlichkeit gibt, so haben
sie sich uns bisher nicht offenbart.
    Was übrigens auch für die Burg selbst gilt. Sie scheint sehr
weitläufig, Stück für Stück angebaut, wie es zu dem mittelalterlichen Eindruck,
den alles macht, ja auch gut paßt. Der älteste Teil ist ohne Frage der Turm,
der den Kern des ganzen Komplexes bildet; offenbar hat der Hausherr dort seine
eigenen Gemächer, aus denen er nur selten hervorkommt. Daß er indisponiert ist,
ist also vielleicht nicht mehr als eine höfliche Ausrede. Aber da es nun heißt,
er liege unwohl auf dem Krankenlager, kann man natürlich nicht neugierig dort
die Nase hineinstecken. Es kann nicht mehr lange bis zum Abendessen sein, und
ich warte mit jener dumpfen gelangweilten Ungeduld, mit der man in einem Hotel,
in dem nichts los ist, auf die nächste Mahlzeit wartet. Ich freue mich, das muß
ich zugeben, darauf, Christine wiederzusehen, und vielleicht werden die
düsteren Geheimnisse dieses Ortes mich ja doch noch für die nächsten zwölf oder
vierundzwanzig Stunden zerstreuen können. Aber was würde ich dafür geben,
könnte ich jetzt weit auf der anderen Seite des Tweed sein!
    Heiligabend, zu vorgerückter Stunde – und mein Geburtstag dazu. Soll
ich meinen Strumpf für den Weihnachtsmann aufhängen, damit die Eulen drin
nisten und die Ratten dran nagen können? Was es wohl auf Burg Erchany an
Weihnachtsgeschenken gibt? Ich blicke aus meinem Fenster und sehe, daß der
Sturm eine Pause eingelegt hat. Die Landschaft liegt im letzten Licht des Tages
wunderbar friedlich, still und weiß. Noel , Diana, Noel !
    Dein
    Noel.

III.
    Am
Weihnachtsmorgen
    Beflort den Himmel, weiche Tag der Nacht! Meine müßigen Notizen
der letzten zwei Tage erweisen sich nun unversehens als Präambel zu einer
wahren Tragödie. Mr.   Ranald Guthrie von Erchany ist tot.
    Es ist alles so fantastisch – und dazu auch wirklich entsetzlich –,
daß ich gar nicht weiß, ob ich den Tonfall, mit dem ich begonnen habe, werde
ändern können. Erchany ist und bleibt ein verwunschenes Schloß; nur daß der
Zauber jetzt schal geworden ist wie eines von Großonkel Horatios Gedichten, und
der Zauberer – einst Onkel Horatios Kumpan – ist bei Roull von Aberdene und dem
edlen Roull von Corstorphine. Wenn man sich das vorstellt, daß er vorgestern
abend, als er jenen Korridor entlangschritt, sein eigenes Klagelied sang!
    Das irdisch Glück ist Lug und Trug,
    Das Fleisch ist schwach, der Feind ist klug,
    Und eitler Ruhm im Nu vergeht,
    Timor Mortis conturbat me.
    Ob Fürst, ob Priester, ob Scholar,
    Der Würmer Fraß sind sie fürwahr,
    Sie geh’n dahin ohn’ Wiederkehr,
    Timor Mortis conturbat me.
    Des einen Macht, des andren Wissen,
    Sind keine sanften Ruhekissen,
    Da nützt kein Jammern und kein Fleh’n,
    Timor Mortis conturbat me.
    Ob Magier oder Astrologe,
    Gelehrter oder Theologe …
    Doch an die Arbeit – und die heißt zu Papier bringen, was
geschehen ist. Wer weiß, wozu es noch nützlich ist; und außerdem ist es nach
wie vor mein Tagebuch für Dich, Diana. Es wird gewiß noch Stunden dauern, bis
die Welt herauf nach Erchany kommt – Ärzte, Polizisten, Anwälte –; und wie
lange es dann noch dauert, bis ich abreisen kann, darüber läßt sich nicht
einmal spekulieren. So unerfreulich das auch ist, bin ich doch in das
verwickelt, was gut ein Mord gewesen sein kann. Ein seltsamer Weihnachtstag ist
das!
    Zuerst einmal muß ich Dich – und mich selbst – davon überzeugen, daß
ich die bisherigen Seiten zwar geschrieben habe, um mir die Zeit zu vertreiben,
daß jedoch, was darinsteht, keineswegs Phantasie ist. Sie berichten exakt, was
vorgefallen ist, und sie sind auch ein getreues Zeugnis meiner eigenen,
vielleicht ein wenig launigen, Reaktionen auf diese Ereignisse. Trotzdem sollte
ich wohl noch einmal in nüchternerem Tonfall rekapitulieren.
    Miss Guthrie und ich trafen am späten Montag abend auf Erchany ein,
unangekündigt und allem Anschein nach durch schieren Zufall. Hardcastle hielt
recht verstohlen Ausschau nach einem Doktor. Guthrie nahm uns mit aller
gebotenen Höflichkeit in sein Haus auf,

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