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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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kannte und wußte, wie er ihn zu
flammender Leidenschaft aufstachelte wie mit Peitschenhieben – Miss Guthries
Ausdruck –, bevor er ihn dann fortschickte.«
    »Mr.   Wedderburn, der Mann war ein Teufel in Menschengestalt!«
    »Das ist kaum übertrieben. Vergleichen Sie nun, was tatsächlich
geschah. Von Hardcastle gerufen, kamen Sie gerade zur rechten Zeit die Treppe
des Turms hinauf, um dem vor Wut schäumenden jungen Mann ins Gesicht zu
blicken. Er stürmte an Ihnen vorüber, ohne sich um Sie zu kümmern – Sie werden
sich erinnern, daß Hardcastle einen auffällig ungeschickten Versuch machte, ihn
aufzuhalten –, und schöpfte keinerlei Verdacht. Er ging hinunter zu Miss
Mathers, und gemeinsam kehrten sie Erchany den Rücken. Und in der Zwischenzeit – genauer gesagt im selben Augenblick, in dem Lindsay zur Tür der Studierstube
heraus war – stürmte Guthrie durch das kleine Schlafzimmer und stürzte sich
über die Zinnen in den Tod.«
    Gylby war aufgesprungen und mit großen Schritten in der Galerie auf-
und abgegangen. Nun hielt er inne und sah mich mit erregter Miene an. »Es paßt – Mr.   Wedderburn, alles paßt! Ich weiß nur nicht, ob es zeitlich –«
    »Ein wichtiger Punkt. Ich hoffe, daß wir in Kürze eine Stoppuhr zur
Verfügung haben werden und damit beweisen können, daß die Zeit für Lindsay
nicht gereicht hätte, Guthrie vom Turm zu stoßen – daß die Zeit zwischen dem
Augenblick, in dem Sie den Schrei hörten und Guthrie stürzen sahen, und
Lindsays Auftauchen an der nächsten Biegung der Treppe nicht gereicht hätte, um
von den Zinnen bis dorthin zu kommen. Guthrie rechnete ja nicht damit, daß es
auf eine halbe Minute ankommen würde. Er rechnete nicht damit, daß der Zeuge
auf der Treppe ihn tatsächlich stürzen sah . Er
überschätzte auch seine eigene Beherrschtheit und rechnete nicht mit dem
Aufschrei. Nach seinen Plänen hätte es genügt, daß jemand sieht, wie Lindsay
wutentbrannt die Turmtreppe herunterstürmt, und man kurz darauf Guthries Leiche
am Fuße des Turmes findet.
    Trotzdem müssen wir uns mit diesen Fragen des Zeitplans gleich noch
näher beschäftigen. Zuvor sollten wir aber festhalten: Guthries Schrei zeigt,
daß er im letzten Augenblick nicht so tapfer war, wie er geglaubt hatte. Doch
auch bei einem noch wichtigeren Detail fehlte ihm der Mut. Er hat es nicht
fertiggebracht, sich vor dem Sturz einen Finger oder zwei abzuhacken.«
    »Mr.   Wedderburn, ich kann das alles nicht glauben. Das ist das
entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gehört habe.«
    »Aber es ist die Wahrheit. Guthrie schärfte eine Axt, um, wie er
Mrs.   Hardcastle erklärte, eine große Ratte zu erledigen: ohne Zweifel meinte er
Lindsay mit dieser Ratte, und das Beil sollte seine Rolle dabei spielen, ihm
ein Verbrechen anzuhängen. Denken Sie daran, welch merkwürdigen Eifer
Hardcastle daransetzte, festzustellen, ob auch niemand die Leiche etwas
›angetan‹ habe; sobald der Junge, der mit dem Dorfpolizisten hergekommen war,
wieder in Kinkeig war, begann das Gerücht die Runde zu machen, daß der Leichnam
verstümmelt sei. Nur Hardcastle kann der Ursprung dieses Gerüchtes sein; er
glaubte daran, daß es geschehen war, weil es ja zum Plan gehört hatte; und wenn
Hardcastle in letzter Zeit etwas Verwirrtes oder Verunsichertes hat, dann
deswegen, weil er gar nicht verstehen kann, daß es ihm immer noch niemand
offiziell bestätigt hat. Wäre es so gekommen, dann wären die Indizien, die für
Lindsays Schuld sprachen, zumindest in der Öffentlichkeit überwältigend
gewesen. Und die öffentliche Meinung braucht man, wenn man jemanden als
Verbrecher anschuldigen will. So makaber Guthries mißlungener Plan auch war,
war er doch ausgesprochen raffiniert.«
    Gylby holte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. »Mr.   Wedderburn, ich kann Ihre innere Ruhe nur bewundern. Guthrie muß ja irrsinnig
durch und durch gewesen sein.«
    Ich schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. »Nein! An der ganzen Sache
ist nichts, was nicht vollkommen logisch und rational wäre, nichts, was ein
Gericht auch nur einen Moment lang erwägen ließe, daß Guthrie nicht bei
Verstand war. Er wußte, was er wollte, und er wußte, wie er es erreichen
konnte. Und aus Ihrem eigenen Bericht habe ich auch durchaus den Eindruck eines
Mannes, der zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte. Verrückt war er nur
in einem sehr allgemeinen Sinne. Genau betrachtet war er ein Mann mit zwar
bösem und abstrusem,

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