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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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sich nicht in so jemanden
verlieben. Und dann ist es einfach lächerlich und verrückt.«
    »Und wenn sich nachweisen ließe, daß Lindsay auf seiner Flucht noch innehielt
und um einer alten Fehde willen der Leiche ein paar Finger abhackte?«
    Gylby starrte mich an. »Der Gipfel des Irrsinns.«
    »Ganz genau – der Gipfel des Irrsinns. Und der erste Eindruck, den
Sie von Ranald Guthrie hatten, war, daß er irrsinnig war.«
    »Gütiger Himmel!«
    »Ich kann gut verstehen, daß Sie die Götter anrufen. Es ist eine
abscheuliche Vorstellung. Ranald Guthrie beging Selbstmord – und im gleichen
Augenblick beging er ein entsetzliches Verbrechen. Das ist der Kern des ganzen
Geheimnisses. Nun müssen wir nur noch hinter die Einzelheiten kommen.
    Guthrie wollte um jeden Preis verhindern, daß Lindsay seine Nichte
bekam – ich glaube, das ist die pathologische Tatsache, von der wir ausgehen
müssen. Und aus einem Grunde, den wir nicht kennen, haßte er den jungen Mann so
sehr, daß er – vielleicht nachdem es ihm nicht gelungen war, sein Ziel auf
anderen Wegen zu erreichen – einen Plan ersann, ihn umzubringen – und sich
dazu. Bedenken Sie, daß er von mehr als nur melancholischem Temperament war – daß er jenen tiefen Willen zum Tode in sich hatte, der die Erklärung für so
viele anscheinend grundlose Selbstmorde ist. Tatsächlich hat er schon einmal
versucht, sich das Leben zu nehmen – davon habe ich durch einen glücklichen
Zufall gestern erfahren –, und wir müssen uns vorstellen, daß er einen Plan
ersann, in dem er die beiden Impulse zum Äußersten trieb. Er würde Lindsay
seine Nichte vorenthalten, und zwar dadurch, daß er dafür sorgte, daß Lindsay
in Schande durch den Arm des Gesetzes starb, und mit dem gleichen Akt würde er
seine eigene, unerklärliche und tief sitzende Sehnsucht nach Selbstzerstörung
befriedigen. Da werden Sie verstehen, warum er Dunbars Verse rezitierte
und warum sein Gesicht von Todesfurcht gezeichnet war: er wußte, daß er sterben
würde. Sie werden auch verstehen, warum Sie Anzeichen eines inneren
Kampfes gespürt haben und warum Miss Mathers die Unentschlossenheit, wenn auch
nicht deren Grund, spürte und sagte: ›Du mußt dich entscheiden.‹ Kein Mensch
hätte solche Pläne in seinem Herzen bewegen können, ohne daß es Augenblicke der
Furcht und des Entsetzens gab.
    Ein Verbrechen würde geschehen – und es sollte einen Zeugen dafür
geben. Und den besten, den man sich denken kann – einen Arzt.«
    »Hardcastles Doktor!«
    »Das würde ich vermuten. Das erste, was ihm von seinem Plan mißlang,
das war, daß dieser Doktor – wer immer er gewesen sein mag – nicht kam. Statt
dessen kamen Sie und Miss Guthrie. Und Guthrie beschloß, daß Sie die Rolle des
Doktors übernehmen würden. Daher das Kalkulierende in seinem Betragen, als er
Sie das erste Mal sah. Deshalb die nachdrückliche Bemerkung, er sei froh, daß
Sie gekommen seien.
    Ich glaube, auch daß Guthrie am nächsten Tag Krankheit vortäuschte,
war noch ein Rest des ursprünglichen Plans. Wahrscheinlich ging es darum, den
Doktor zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort zu haben – davon hing ja alles ab –, und er hielt sich an seine Pläne, selbst als der Doktor – der, darf man
vermuten, nicht mehr durch den Schnee kam – ausblieb und Sie an seine Stelle
traten.
    Und nun zu dem Plan. Im Grunde war er sehr einfach. Lindsay sollte
am Weihnachtsabend kommen und in aller Stille, ja sogar im geheimen, Miss
Mathers und die Mitgift holen. Exzentrisch wie Guthrie war, und so wie er diese
Ehe als Schande hingestellt hatte, würde dies Arrangement bei den beiden keinen
Verdacht erregen. Lindsay und Miss Mathers sahen zwar, daß er sie damit
demütigen wollte, aber weitergehende Absichten vermuteten sie nicht. Und
ebensowenig hätten wir heute die geringste Ahnung davon, was vorgegangen war,
wenn nicht Miss Mathers durch reinen Zufall die Gelegenheit bekommen hätte,
einem alten Freund in Kinkeig einen Brief zu schreiben. Wäre dieser Umstand,
mit dem Guthrie nicht rechnen konnte, nicht gewesen, dann hätte nichts die
Aussage der beiden Flüchtigen, daß Guthrie den Aufbruch gestattet und Christine
eine Summe Goldes gegeben hatte, beweisen können.
    Lindsay sollte zu einer letzten Unterredung mit Guthrie in das Turmzimmer
kommen – und zu einem vorbestimmten Zeitpunkt wieder fortgeschickt werden. Und
zwar in einer bestimmten Verfassung fortgeschickt. Ich könnte mir vorstellen,
daß Guthrie das Temperament des Jungen

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