Klagelied der Sterne: Der frühe Homanx-Zyklus, Bd. 2
wieder dem Geistlichen reichte.
Der zittrige Pyreau nahm das Gefäß entgegen. Vielleicht hätte er zuerst am Inhalt schnüffeln sollen, doch er war zu müde und durstig, als dass er einen Gedanken darauf verschwendet hätte. Davon abgesehen: es gab Zeiten, da musste ein Mann sich auf das eigene Urteilsvermögen und auf das Wort eines anderen verlassen, selbst wenn der andere ein Paar Arme zu viel besaß.
Das Wasser war kalt, frisch und schmeckte besser als der edelste Chardonnay. Trotz seines großen Durstes achtete Pyreau darauf, nicht alles zu trinken und gab das Behältnis seinem Besitzer halb voll zurück. Mit dem rechten Unterarm wischte er sich über den Mund. Das Blut auf dem Ärmel war bereits getrocknet. »Was machen wirjetzt?«, fragte er laut.
Während sich der blaugrüne Körper des Außerirdischen nicht von der Stelle rührte, drehte sich sein Kopf erstaunlich weit herum - fast in einem Winkel von 180 Grad. »Ich schlage vor, wir warten. Ich könnte versuchen, Hilfe zu holen. Aber in all dem Chaos bin ich nicht sicher, ob Ihre Kameraden meinen Bitten bereitwillig nachkommen. Wenn sie richtige Soldaten sind, werden sie eher die Befehle ihrer Vorgesetzten befolgen. In so einer Situation hören sie wahrscheinlich nicht auf jemanden wie mich.« Die Antennen des Thranx zuckten, und seine Mundwerkzeuge klickten. »Früher oder später wird man uns bestimmt hier finden.«
Shanvordesep hockte sich hin und untersuchte die Leiche des Thranx gleich neben sich. Eng zusammengerollt, hatte der Tote alle acht Glieder an den Körper gezogen. Sein Kopf fehlte, von einer Granate in tausend Stücke gerissen, und Nervenstränge und längliche Muskeln ragten aus dem offenen Halssegment hervor.
»Soweit ich weiß, recycelt ihr eure Toten anders als wir.«
Pyreau war entsetzt, dennoch achtete er darauf, sein Mienenspiel unter Kontrolle zu behalten, für den Fall, dass der Thranx die menschliche Mimik zu deuten wusste. »Wir recyceln unsere Toten nicht. In den meisten Fällen halten wir eine angemessen würdevolle Bestattung für sie ab.«
Shanvordesep, der noch immer die Thranx-Leiche untersuchte, sah zu dem Menschen hoch. »Ihr begrabt sie in der Erde. Was geschieht dann mit ihnen?«
»Sie ruhen darin.« Pyreau fragte sich, wieso er dem Thranx etwas so Offensichtliches erklären musste.
»Und was geschieht dann mit ihnen? Hinterher?«
Pyreau zuckte die Achseln. »Wenn man keine speziellen Konservierungstechniken oder -särge einsetzt, bleiben sie so lange in der Erde, bis ihre Särge zerfallen. Danach werden ihre Körper …«
»…recycelt«, beendete der Thranx den Satz für ihn. »Unsere beiden Völker gehen die Angelegenheit ähnlich an, der Hauptunterschied besteht in dem von euch verwandten Totenbehältnis. Ihre Spezies recycelt nach und nach, wir hingegen bevorzugen es, unsere Toten direkt zu recyceln. In unseren Stöcken haben wir das schon immer so gemacht. Zugegeben, in manchen Details unterscheiden sich unsere Praktiken, aber alles in allem sind sich unsere Traditionen recht ähnlich.« Er richtete sich zur vollen Größe auf, sodass sein Kopf wieder etwa auf Brusthöhe des Priesters war.
»Ich glaube, es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten, die zu erforschen recht nützlich sein könnte.« Mit einer Echthand wies er auf eine Gangsektion, in der vergleichsweise wenig Leichen lagen. »Möchten Sie sich mit mir darüber unterhalten? Wenn wir eins haben, dann ist das wohl Zeit.«
Sollte Pyreau tatsächlich mit einem Außerirdischen über Religion diskutieren? Mit einem, der ihn weniger an einen Theologie-Seminaristen als eher an die großen Gottesanbeterinnen erinnerte, die so gewagt unter dem Dachgesims der Gebäude in seinem Stützpunkt balancierten? Wieso nicht? Wie Shanvordesep einfühlsam aufgezeigt hatte, mussten sie jetzt nur noch eins totschlagen: Zeit.
Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war, dass ein insektenähnlicher Außerirdischer ihm bei seiner einsetzenden Glaubenskrise helfen würde, doch genau das geschah momentan. Er für seinen Teil war imstande, den höchst wissbegierigen Thranx über die menschliche Spiritualität aufzuklären. Im Laufe ihrer Unterhaltung stellte sich heraus, dass Shanvordesep nicht sonderlich zufrieden war mit der gegenwärtigen Organisation des uralten Ordens, dem anzugehören seine Berufung war. Shanvordesep bemängelte, dass der Orden nicht mit der Kultur Schritt gehalten habe und auch nicht mit solch unerwarteten Offenbarungen wie der Existenz anderen
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