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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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einem Erinnerungsstück für ihren Vater in den Regalen um.
    »Würden Sie mich einen Moment allein lassen?«, bat sie.
    »Dieser Raum ist voller Patientenakten. Ich respektiere Ihre Trauer um Theodora, aber ich darf Sie hier nicht unbeaufsichtigt lassen.«
    Zornig fuhr sie herum.
    »Verzeihen Sie«, sagte er unbeeindruckt, »aber ich habe einen Eid geleistet, der mich verpflichtet, die Privatsphäre meiner Patienten zu wahren. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür, dass ich keine Außenstehende mit all diesen Unterlagen allein lassen kann.«
    Im Gegenlicht sah sie nur seinen Umriss, aber sie ahnte auch so, was sie in seinen Zügen hätte lesen können: vor allem eine gehörige Portion Selbstzufriedenheit.
    »Würden Sie bitte das Licht einschalten?«
    Sternberg drückte auf den Schalter neben der Tür. Halogenstrahler tauchten den Raum in Helligkeit.
    Anais wollte zurück zum Schreibtisch gehen   – irgendwie musste sie einen Blick in die Schubladen werfen   –, aber da entdeckte sie etwas, das ihrer Neugier eine andere Richtung gab.
    Auf einem schmalen Sekretär stand eine kleine Zinnschale. Darin lagen Gegenstände, die sie auf den ersten Blick für Münzen hielt. Tatsächlich aber waren die kleinen Metallscheiben oval und sehr viel dünner als Geldstücke. Jemand hatte sie auf eine Halskette gezogen. Als Anais sie aus der Schale hob, zählte sie fünf dieser Anhänger.
    In ihrer Jackentasche steckte ein sechster. Oval, dunkel angelaufen, mit zwei identischen Zahlenreihen; zwischen ihnen verlief eine eingestanzte Linie, an der die Marke in zwei Hälften zerbrochen werden konnte.
    Sie drehte sich damit zu Sternberg um und wollte ihn gerade darauf ansprechen, als sie sah, dass hinter ihm jemand auf dem Flur erschienen war. Sternberg hatte den Neuankömmling noch nicht bemerkt und blickte mit gerunzelter Stirn zu ihr herüber.
    »Sie möchten wissen, was das ist?«, fragte Leonhard von Stille im Rücken des Arztes.
    Sternberg wirbelte erschrocken herum.
    Der alte Mann war erstaunlich hochgewachsen, größer als Sternberg, und hielt sich gerade wie ein junger Offizier.Er trug noch immer den transparenten Mantel und hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Darunter war sein kahler Schädel voller Narben und Altersflecken zum Vorschein gekommen.
    »Was Sie da in Ihrer Hand halten«, sagte er zu Anais, »sind die Erkennungsmarken der fünf Kinder, die ich aus dem brennenden Tunnel gezogen habe. Die Einzigen, die außer mir überlebt haben. Ich habe mir die Marken damals von den Ärzten geben lassen und sie aufgehoben. Vor einigen Jahren habe ich sie Ihrer Stiefmutter geschenkt, zum Dank, weil ich ihr mein neues Leben verdanke.«
    Anais kämpfte gegen den Drang an, vor ihm zurückzuweichen. War es die verschwommene Erinnerung an den nächtlichen Kuss, den sie aus irgendeinem Grund mit ihm in Verbindung brachte? Je länger er zurücklag, desto mehr erschien er ihr wie ein Traum.
    Widerwillig löste sie ihren Blick von ihm und hob die Kette mit den Marken näher vor ihr Gesicht. »Das war eine großzügige Geste«, sagte sie. Er schien ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass Sternberg ihr seine Geschichte erzählt hatte. Oder das, was der Professor für von Stilles Geschichte hielt; jenen Teil davon, den er kannte.
    Sie prägte sich die Anordnung der Zahlenreihen auf den Plaketten ein, dann legte sie die Kette zurück in die Schale. Sie war nicht sicher, ob sie es mit einem rührenden Erinnerungsstück oder einer makaberen Trophäensammlung zu tun hatte.
    »Jedes Kind, das aufs Land verschickt wurde, musste eine dieser Marken tragen«, sagte der Freiherr. »Sie unterscheiden sich kaum von denen, die man den Wehrmachtssoldaten umgehängt hat, damit man später ihre Leichen identifizieren konnte.«
    Sternberg räusperte sich. »Kann ich etwas für Sie tun, Herr von Stille?«
    »Dürfte ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«
    Sternbergs Blick flatterte nervös von dem entstellten Alten zu Anais, dann zurück zu ihm. »Ich werde noch bis zum Abend im Institut sein. Wenn es noch ein wenig Zeit hat   –«
    Von Stille fiel ihm schneidend ins Wort. »Das hat es nicht, fürchte ich.« Sein Plastikmantel knisterte wie Frischhaltefolie, als er hinaus auf den Gang wies. Vielleicht kam das Geräusch auch von seiner verbrannten Haut.
    Der Professor atmete tief durch. »Natürlich.«
    Anais fing einen Blick des alten Mannes auf und schluckte.
    »Ich bin sicher«, sagte von Stille, »Frau Schwarz wird ein paar Minuten

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