Klammroth: Roman (German Edition)
konnten ihre Ladung nicht wie vorgesehen loswerden. Da kam es nicht selten vor, dass überzählige Bomben über offenem Land abgeworfen wurden. Nicht zu vergessen die Angewohnheit der Wehrmacht, geräumige Gebäude wie Schlösser und Landgüter zu annektieren und Hauptquartiere und Lazarette darin unterzubringen. Die Alliierten wussten das natürlich genau und hatten es besonders auf solche Bauwerke abgesehen. Hinzu kam, dass viele Bombenladungen in den Ein- und Ausflugschneisen nahe des Rheins niedergingen. Es musste also etwas unternommen werden, um die Sicherheit all der hohen Söhne und Töchter im Stillen Haus zu garantieren. Offenbar gab es Hinweise, dass ein gezielter Angriff kurz bevorstand.«
Anais dachte an den zerstörten Flügel des Gemäuers. Sternberg hatte sie am Haken, auch wenn sie sich das nur widerwillig eingestand.
»Jemand – vielleicht von Stille selbst, womöglich auch irgendwer aus der Dienerschaft – erinnerte sich an den Tunnel. Während der Luftangriffe auf Koblenz, Köln und Trier hatte schon manch einer aus Klammroth dort Unterschlupf gesucht, aber für von Stilles Kinderlager war eine Handvoll Wehrmachtsoldaten abgestellt worden, die dafür sorgen konnten, dass dort niemand einen Platz wegnahm, der ihm nicht gebührte.«
»Er hat andere Menschen aus dem Tunnel vertrieben, um die Kinder dort unterzubringen?«
»Jedenfalls wurde mir das so erzählt. Wenn man weiß, wonach man zu fragen hat, bekommt man durchaus ein paar Antworten. Die ganze Sache ist über Jahrzehnte totgeschwiegen worden, aber das heißt nicht, dass nicht doch der eine oder andere, der damals dabei war, ein gewisses Mitteilungsbedürfnis entwickelt hat. Erst recht in einerKlinik, in die die Menschen wegen ihrer unerträglichen Schmerzen kommen.«
Sie spürte, wie etwas in ihr emporkroch, das mehr war als Kälte und Grauen. Kurz fragte sie sich, ob Sternberg diesen Moment genoss und es womöglich genau darauf angelegt hatte.
»Von Stille verbarrikadierte sich mit den Kindern im Tunnel. Was er aber wohl in der Eile nicht herausgefunden hatte, war, dass es dort ein geheimes Munitionsdepot gab. Ob es noch aus den Anfangstagen des Krieges stammte oder von irgendwelchen Partisanen, womöglich auch nur von Wilderern – wer weiß. Und natürlich hätte auch gar nichts geschehen müssen, trotz all dieser Vorräte. Aber er hatte es nun einmal mit Kindern zu tun. Ein paar Dutzend Kindern, die in einem dunklen Tunnel im Berg eingesperrt waren. Kein Wunder, dass ein paar von ihnen die Finger nicht von den geheimnisvollen Kisten lassen konnten.«
Anais erinnerte sich zum ersten Mal seit Langem wieder an das Gefühl ihrer brennenden Kopfhaut. »Mein Gott«, flüsterte sie.
»Am Ende war gar kein Bombenangriff nötig«, sagte Sternberg. »Die Munition ging hoch wie ein Feuerwerk, und nur von Stille und eine Handvoll Kinder haben das Inferno überlebt. Alle anderen, mindestens sechzig oder siebzig Jungen und Mädchen, sind bei lebendigem Leibe im Tunnel verbrannt.«
25
»Aber wie konnte so etwas geheim gehalten werden?«, fragte Anais, nachdem sie Sternberg lange Zeit wortlos angestarrt hatte.
»Es gab keine Geheimhaltung. Man sprach einfach nicht darüber.«
»Ich hab nie davon gehört, nicht mal damals nach dem Unfall.«
Sternberg rückte nach vorn und verschränkte die Hände auf seiner Schreibtischauflage. »Das Ganze hat sich unmittelbar vor Kriegsende abgespielt, wenige Tage vor der Kapitulation im Mai ’45. Vieles, was damals geschehen ist, ist nie restlos aufgeklärt worden. Von Stille hat sich furchtbare Verbrennungen zugezogen, als er versucht hat, so viele Kinder wie möglich aus den Flammen zu holen. Am Ende waren es vier oder fünf, alle in ähnlichem Zustand wie er selbst, und ob er ihnen damit wirklich einen Gefallen getan hat, weiß der Himmel. Sie alle sind schon seit Langem tot. Nur er ist noch immer am Leben. Wäre ich ein religiöser Mann, würde ich vielleicht glauben, er sei dazu verdammt, für die Katastrophe zu büßen.«
»Sie glauben, dass er die Schuld daran trägt?«
»Er hat die Kinder in den Tunnel gebracht. Ganz gleich, was dann geschehen ist – ob sie die Explosion selbst verursacht haben oder ob es einer der Männer war, die von Stilles Soldaten von dort vertrieben haben –, es spielt gar keine Rolle. Er hat die Verantwortung getragen. Und er sieht das wohl auch selbst so, zumindest meinte das Ihre Stiefmutter.«
»Denken Sie wirklich, jemand aus Klammroth hätte
Weitere Kostenlose Bücher