Klammroth: Roman (German Edition)
allein zurechtkommen. Ist es nicht so?«
Sie nickte.
Sternberg wandte sich unglücklich von ihr ab und trat hinaus auf den Korridor. Von Stilles Hand schoss vor wie eine Echsenklaue, packte die Klinke und zog die Tür von außen zu.
Anais war allein im Büro.
Zwei Minuten später fand sie in einer Schreibtischschublade mehrere Schlüsselkarten und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden.
26
Als sie in die Pension zurückkehrte, war Lily noch immer nicht da. Besorgt schaute sie sich im Zimmer um, dann nebenan im Bad. Der Zettel, den sie für Lily geschrieben hatte, lag unberührt auf dem Kopfkissen. Nichts wies darauf hin, dass in der Zwischenzeit jemand hier gewesen war.
Sie war schon auf dem Weg zur Tür, um im Ort nach Lily zu suchen, als ihr Blick auf den Nachttisch fiel.
Gleich vor dem Radiowecker lag ein Handy, blutrot beschienen von den Leuchtziffern. Es war ihres. Dasselbe, das sie im Tunnel verloren hatte.
Sie zögerte einige Herzschläge, ehe sie es in die Hand nahm. Das Gehäuse wies keine Kratzer auf, nicht die geringste Spur von Schmutz. Sie schaltete es ein und sah den vertrauten Startbildschirm. Darüber lag eine Benachrichtigung. Lily hatte ihr eine SMS geschickt, erst vor einer Stunde.
»Mum«, schrieb sie, »bin mit ein paar Leuten unterwegs. Mach dir keine Sorgen. Waren am Tunnel, scheint hier der angesagteste Treffpunkt zu sein. ^^ Haben ein Lagerfeuer gemacht, trotz Regen. Dein Handy lag vor dem Tor. Ich hab’s sauber gemacht. Gehen noch was essen, bin um zehn wieder da, ok? LG Lily«
Mach dir keine Sorgen.
Lily war am Tunnel gewesen, mit weiß der Teufel wem! Wahrscheinlich Teenager, zu Tode gelangweilt wie sie selbst damals, als sie sich an den Nachmittagen mit Sebastian und den anderen hinterm Sägewerk getroffen hatte. Kein Wunder, dass die nächste Generation sich am Tunnel herumtrieb – sie selbst und die anderen hätten das Gleiche getan. Aber, Herrgott, es war der Tunnel!
Sie war drauf und dran, sofort zur Brücke zu fahren und von dort aus den Berg zum Tor hinaufzulaufen. Aber Lily schien ja wieder in Klammroth zu sein. Sie schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, in Ruhe nachzudenken. Es passte ihr nicht, dass Lily sich mit jemandem herumtrieb, den sie nicht kannte – andererseits tat sie das in London jeden Tag, ohne dass Anais davon erfuhr. Und Klammroth war nun wirklich nicht London.
Grübelnd wog sie das Smartphone in der Hand und untersuchte es erneut. Warum hatte es vor dem Tor gelegen? Sie war sicher, dass es ihr erst im Inneren aus der Hand gerutscht war. Sie hatte damit ins Dunkel geleuchtet, ganz kurz nur, ehe etwas ihren Rücken gerammt hatte. Das Handy war aus ihrer Hand geglitten und beim Aufschlag erloschen.
Sie versuchte sich einzureden, dass ihre Erlebnisse im Tunnel nicht real gewesen waren. Wo war der Schmerz in ihrem Rücken geblieben? Fort, nachdem sie morgens in der Ruine ihres Elternhauses erwacht war. Auch jetzt spürte sie nichts davon. Die Schürfwunden an ihren Handflächen waren noch da, aber die stammten von einem Sturz. Der Tunnel hatte keine Spuren hinterlassen. Wenn sie ehrlich zu sich war, klang das alles verdächtig nach Wahnvorstellungen. Sie hatte ihre Medikamente abgesetzt, seit Lily bei ihr war. Die Tabletten machten sie benommen, und sie hatte nicht gewollt, dass ihre Tochter sie für einen Zombie hielt.
Ihre Knie fühlten sich an wie Gelatine, als sie die Pension verließ und ins Auto stieg. Mit bebenden Fingern manövrierte sie aus der Lücke und fuhr die Straße hinunter. An der nächsten Kreuzung bog ein Taxi in ihre Richtung ab, aber als der Wagen sie passierte, saß hinterm Steuer einealte Frau mit einem Mund aus dunkelrotem Lippenstift. Als er sich zu einem Lächeln teilte, offenbarte er Zähne so groß wie Daumennägel.
Es wurde schon dunkel, als sie erneut den Weg zum Avila-Institut einschlug. Gegen halb sieben tauchte die Klinik vor ihr auf, eine Ballung aus Lichtern inmitten der Finsternis wie eine Raumstation im All.
Sie passierte das Tor und bog gleich dahinter auf einen der Wirtschaftswege des Parkgeländes. Fünfzig Meter weiter stellte sie den Motor aus. Die Dunkelheit verschluckte den Wagen, während der Regen noch lauter auf Dach und Scheiben prasselte.
Ihre Finger tasteten nach dem Handy. Als sie es einschaltete, verbreitete es einen Hauch von Helligkeit im Inneren des Subaru. In den Scheiben sah sie ein gespenstisches Abbild ihrer selbst, blass wie eine Doppelbelichtung in einem
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