Klammroth: Roman (German Edition)
Schwarz-Weiß-Film.
Lilys Nummer war die oberste in der Anrufliste. Sie tippte sie an und wartete mit klopfendem Herzen auf das Freizeichen.
»Hi, Mum!« Unbefangen, fast fröhlich.
»Lily! Wo steckst du?«
»Hast du meine SMS nicht gelesen?«
»Da stand nur was von Essen.«
Lily seufzte, während im Hintergrund junge Stimmen flüsterten. »Und wo findet man in diesem Kaff was Essbares?«
»Kommt drauf an.«
»Bestimmt keine schmierige Pizza von irgendeinem Dörfler, der Italien nicht mal aus dem Fernsehen kennt.«
»Pappiges Fast Food ist ja auch viel gesünder.«
»Die Drogen machen’s ganz erträglich.« Nach einerPause lachte Lily. »Das war ein Scherz, Mum. In Wahrheit trinken wir nur Alkohol.«
»Mach keinen Unsinn, okay?«
»Alles in Ordnung, wirklich.« Lily klang, als hätte sie sich von den anderen abgewandt, denn die Stimmen wurden leiser. »Bei dir auch alles gut?«
»Ja, sicher.« Sie räusperte sich. »Danke für das Handy. Ich hab gedacht, ich seh’s nie wieder.«
»Wenn man nicht ständig auf dich aufpasst.« Lily ließ es so klingen, als wollte sie ihre Mutter auf den Arm nehmen, aber in Wahrheit wusste Anais nur zu genau, dass Lily es ernst meinte. Und sie fühlte sich furchtbar, weil sie ihrer Tochter das Gefühl gab, dass sie weniger gut auf sich achtgeben konnte als eine Vierzehnjährige.
»Hör mal, Lily.«
»Hm?«
»Um zehn bist du zurück in der Pension, okay? Wir fahren morgen gleich nach dem Frühstück los.«
Kurzes Zögern. Im Hintergrund flüsterten wieder die Stimmen.
»Versprochen«, sagte Lily.
»Bis dann. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Anais wollte noch etwas sagen, wartete aber einen Moment zu lange. Lily hatte das Gespräch schon beendet.
Etwas bewegte sich im Rückspiegel, huschte von rechts nach links durch die Dunkelheit. Anais schrak zusammen. Dann erkannte sie, dass es nur der Lichtschein eines fernen Wagens war, der zwischen den Bäumen den Hauptweg hinunterfuhr. Wahrscheinlich Angestellte auf dem Weg nach Hause. Hoffentlich Sternberg.
Sie wollte das Smartphone schon ausschalten, als siees sich anders überlegte. Sie öffnete ihre Fotos und klickte durch die Bilder, die sie in Amsterdam gemacht hatte. Aufnahmen von den Vorbereitungen ihrer Performance. Ein verwackeltes Foto in ihrem Hotelzimmer, als sie versehentlich abgedrückt hatte: nur ein Bettpfosten und ein Stück Fenster. Dann ein Bild von Lily vor einer Grachtbrücke. Lächelnd legte Anais es sich als Hintergrund aufs Display, dann schob sie das Handy zurück in die Jackentasche.
Die Bewegung im Rückspiegel wiederholte sich.
Viel näher. Definitiv kein Lichtschein in der Ferne.
Sie wirbelte herum zur Heckscheibe. Fast vollständige Schwärze. Nur links ein paar Lichtpunkte von der Klinik hinter den Baumstämmen.
Ihr Herzschlag raste. Das war albern. Hier war niemand, und wenn doch, dann war es ein Gärtner. Vielleicht der Hausmeister.
Zögernd drehte sie sich nach vorn.
Weißes Licht flammte vor der Windschutzscheibe auf und schien ihr mitten ins Gesicht. Geblendet stieß sie ein Keuchen aus. Ihre Hand tastete nach dem Knopf für die Zentralverriegelung.
Das Licht huschte nach rechts.
Ihr Finger fand den Schalter.
Die Innenbeleuchtung flammte auf, als die Beifahrertür aufgerissen wurde. Die Verriegelung rastete eine Sekunde zu spät ein.
Kräftige Finger packten ihr rechtes Handgelenk. Unter den Nägeln klebten braune Krusten.
Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, wollte mit der anderen Hand zuschlagen.
»Sei still!«, sagte der Mann.
Es war Erik.
27
Seine Kleidung sah aus, als hätte er im Wald geschlafen; Jeans und ein helles Hemd, beides völlig verschmutzt. Am Ansatz seines kurz rasierten Haars klebte ein dunkler Rand, ohne jeden Zweifel Blut, so, als wäre da noch mehr gewesen, das er sich abgewischt hatte. Der Rest war dunkel und schuppig geworden, musste schon viele Stunden alt sein.
Seine Hornbrille saß so schief wie damals in der Schule, der eine Bügel war gebrochen. Die Augen dahinter waren tief eingesunken.
»Lass los!«, brüllte sie ihn an. Seine Hand schloss sich noch fester um ihr Handgelenk. Sein Ärmel war hochgerutscht, darunter zeichnete sich die Anabolikamuskulatur seines Unterarms ab.
Sie schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht, nicht so, wie sie es vor langer Zeit einmal in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, sondern ungezielt und in Panik. Ein Brillenglas wurde von ihrer Faust nach innen gedrückt. Er schrie auf. Sein Griff lockerte
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