Klammroth: Roman (German Edition)
dasDepot gesprengt? Aus Rache dafür, dass von Stille den Tunnel für sich und die Kinder beansprucht hat?«
»Nichts als Gerüchte«, erwiderte Sternberg mit einem überzogenen Seufzen. »Falls es so gewesen wäre, dann sind die Schuldigen wahrscheinlich schon seit vielen Jahren tot. Niemand will sich mehr an solche Einzelheiten erinnern. Wie ich schon sagte, das Lager könnte von Wilderern angelegt worden sein oder von einer Gruppe Widerstandskämpfer. Auch von der Wehrmacht selbst. Und wer kann schon wissen, wem es aus welchen Gründen nicht recht war, dass sich von Stille mit den Kindern und ein paar schwer bewaffneten Soldaten dort eingenistet hatte.« Er gestikulierte mit beiden Händen. »Es gibt viele Möglichkeiten. Darunter eben auch die wahrscheinlichste: dass die Kinder selbst gezündelt haben.«
Es war der Tunnel. In ihr meldete sich eine Stimme zu Wort wie eine verrauschte Radiofrequenz während einer nächtlichen Autofahrt: Er hat es damals getan und später noch einmal.
Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so den Gedanken wieder loswerden. »Ich begreife nicht, wie all das einfach unter den Teppich gekehrt werden konnte!«
Sternberg lachte verächtlich. »Es gibt zig vergleichbare Fälle, die in der allgemeinen Endzeitstimmung von ’45 in den Giftschränken begraben wurden. Verwaltungen wurden ausgetauscht, Verantwortungen abgeschoben. Ganze Gemeinden kamen überein, dass es besser sei, über bestimmte Ereignisse während des Krieges zu schweigen. Ein paar Kinder von irgendwo außerhalb – Kinder hochrangiger Nazis, noch dazu – waren da nicht viel mehr als ein Kollateralschaden, den man schnellstens vergessen wollte. Vor allem, da es ja mit Kriegsende ohnehin keine Nazismehr gab, alle waren unschuldig und die Bösen immer die anderen.«
Mit einem lauten Geräusch scharrten die Stuhlbeine übers Parkett, als Anais ruckartig aufsprang. »Ich will Sie nicht länger als nötig aufhalten, Professor Sternberg. Darf ich mich jetzt in Theodoras Büro umschauen?«
Er wirkte ein wenig überrumpelt, als wäre er in Gedanken noch immer im Jahr 1945. Er blinzelte sie kurz an, dann nickte er und erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch. Der Schlüsselbund klimperte in seiner Hand, als er zum Fenster ging und hinaus in den Regen blickte.
»Ist er noch da?«, fragte sie.
»Wer?«
»Von Stille. Sitzt er noch auf der Bank?«
»Da ist niemand. Kein Mensch.«
Sie trat neben ihn und sah durch den grauen Schleier nach unten. Die Bank war leer. Die schwarzen Baumwipfel, zu denen von Stille hinübergestarrt hatte, bogen sich im Wind.
Sie flattern da draußen in der Nacht. Flattern und wehen und flüstern.
»Gehen wir?«, fragte Sternberg.
Sie löste den Blick von ihrem Spiegelbild. »Ja.«
Durch ein verlassenes Treppenhaus stiegen sie eine Etage höher. Der Korridor sah aus wie der, den sie gerade verlassen hatten. Kahle Wände und angeschraubte Haltegriffe, ein paar leere Liegen auf den Fluren. Eine Krankenschwester huschte in ein Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
Sternberg blieb vor Theodoras Büro stehen und schloss auf. Im Inneren herrschte dasselbe graugrüne Weltuntergangslicht wie draußen im Park. Unter der Decke hing ein Ventilator und warf einen doppelten Schatten, wie Spinnenbeine, als sich die Helligkeit vom Fenster mit dem Neonschein vom Flur überschnitt.
Auf dem Schreibtisch lagen Papiere und ein silberner Kugelschreiber. Rechner, Tastatur, ein Aktenordner. Eine abstrakte Bronzeskulptur, die Gott weiß was darstellte.
Alle Wände waren mit Regalen bedeckt, viele voller Aktenordner, doch Anais’ Blick fiel sofort auf das Fach hinter dem Schreibtisch. Dort standen ihre sechs Romane, angefangen von Die Verbrannten bis hin zu Serpentinas Haut , jedes in zweifacher Ausführung als Hardcover und Taschenbuch. Das allein war bemerkenswert genug, aber nichts verblüffte sie mehr als der Bilderrahmen neben dem Regal mit einem Artikel über ihre missglückte Performance mit den Rasiermessern und Scheren. Theodora schien das beeindruckt zu haben.
»Damit haben Sie nicht gerechnet«, stellte Sternberg hinter ihrem Rücken fest. Er stand noch immer in der offenen Tür, während Anais sich dem Schreibtisch näherte. Es war ihr unangenehm, dass er so gut über ihre Beziehung zu Theodora Bescheid wusste. Zugleich fragte sie sich, was sie selbst eigentlich über diese Beziehung wusste. Augenscheinlich längst nicht alles.
Sie tat, als sähe sie sich auf der Suche nach
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