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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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Soldat?«
    »Sie kennen die Geschichte nicht?« Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, setzte die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Hände vor seinem Kinn. »Ich hatte angenommen, dass jeder hier darüber Bescheid weiß.«
    »Erzählen Sie’s mir?«
    Er runzelte die Stirn und betrachtete sie auf die gleiche berechnende Weise wie vorhin. Sie fragte sich, warum sie ihn nicht gleich vom ersten Augenblick an gehasst hatte.
    »Sie haben schon von den Kinderlandverschickungen während des Krieges gehört, nehme ich an.«
    Stirnrunzelnd nickte sie. »Kinder sind aus den Großstädten raus aufs Land gebracht worden, um sie vor den Bombenangriffen zu schützen.«
    Sternberg schaute hinüber zu einem Bücherregal. Sie stellte sich vor, wie sehr es ihn gekränkt haben musste, dass von Stille sich Theodora anvertraut hatte. Vermutlich hatte sie ihm Bruchstücke wiedergegeben, und er hatte später mit Musterschülerfleiß alle Details und Hintergründe in Erfahrung gebracht.
    »Das Ganze war eine Aktion der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der Hitlerjugend«, erläuterte er imTonfall eines Dozenten, der eine hübsche Studentin beeindrucken will. »In den ersten Jahren blieb es den Eltern überlassen, ob sie ihre Kinder für längere Zeit fortgeben wollten oder nicht. Aber während der letzten zwei, drei Kriegsjahre verloren die Verschickungen ihren freiwilligen Charakter. Anfangs waren die Kinder mit Sonderzügen in Lager gebracht worden, die eigens zu diesem Zweck von der HJ angelegt worden waren, in alten Hotels oder Dorfschulen, sogar Klöstern. Aber bald reichte der Platz hinten und vorne nicht mehr. Viele landeten in Pflegefamilien und privaten Unterkünften. Auf dem Höhepunkt waren zwei Millionen Kinder von ihren Eltern getrennt worden, zum einen, um sie in den Lagern ideologisch zu erziehen und die Jungen auf einen Einsatz an der Front vorzubereiten, zum anderen, um die Mütter daheim in Munitionsfabriken und Lazaretten schuften zu lassen.«
    »War von Stille ein Nazi?«, fragte sie.
    »1945 war er dreißig, er wird sich also vermutlich für die eine oder andere Seite entschieden haben. Allerdings war er nicht an der Front, aus welchen Gründen auch immer. Am Ende spielt es wohl auch gar keine Rolle, ob man ihn aufgrund seiner Gesinnung oder wegen der Größe seines Hauses ausgewählt hat.«
    »Die haben Kinder bei ihm im Stillen Haus untergebracht?«
    »Einige Dutzend. Sie kamen in den letzten Monaten hierher, im Winter ’44. Das war nicht weiter ungewöhnlich, im ganzen Land wurden Jungs und Mädchen in ähnliche Gemäuer gesteckt, um sie vor den Bombenteppichen der Alliierten zu bewahren. Sie müssen bedenken, dass es den Leuten zu jener Zeit wirklich dreckig ging. Der Krieg war längst vor der eigenen Haustür angekommen, es herrschteMangel an Lebensmitteln, und es gab kaum Material zum Heizen. Den Kindern muss das Stille Haus wie ein Paradies erschienen sein, abgesehen von denen, die an Heimweh litten, natürlich. Es gab Platz, es gab Essen und auf den Ländereien wohl auch genügend Holz, um zumindest einen Teil des Gebäudes warm zu halten.«
    »Hatte von Stille Familie?«
    Sternberg schüttelte den Kopf. »Nein, seine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Aber es gab Bedienstete   – Hausmädchen, Köchinnen, Waldarbeiter aus Klammroth. Den Kindern dürfte es dort viel besser ergangen sein als zu Hause in den Städten, die mehr und mehr zu Trümmerwüsten wurden.«
    »Aber es ist nicht gut ausgegangen«, stellte sie fest.
    »Nun, die Kinder im Stillen Haus stammten zu einem großen Teil aus den Familien hochrangiger Parteimitglieder. Bis zuletzt war es ihren Eltern wohl gelungen, sie daheim zu behalten, aber schließlich muss die Verschickung das Beste für alle gewesen sein. Um noch einmal auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen: Glauben Sie, all diese feinen Damen und Herren hätten ihre Sprösslinge jemandem anvertraut, der Führer und Reich nicht die Treue geschworen hatte? Allerdings habe ich keine Beweis dafür. Und es hat wohl auch keinen Einfluss gehabt auf das, was dann geschehen ist.«
    Er machte eine Pause, und Anais erwartete schon, er könnte eine Pfeife hervorziehen und sie in aller Ruhe stopfen. Doch ihm schien die Theatralik eines langen Schweigens zu genügen, denn als er fortfuhr, kam er schneller zur Sache als zuvor.
    »Anfang 1945 war ganz Deutschland in Schutt und Asche versunken. Immer öfter verfehlten die Bomber ihre Ziele inden Städten oder

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