Klang des Verbotenen
du hintrittst, und träume nicht …«
»Aber …«
»Hör zu. So ging es einst einem Caballero, der von ganz oben auf dem Turm den Blick über die Stadt genossen, die Sonne im Westen beim Untergang über dem Guadalquivir betrachtet hatte – tu du das nie! – und dann wieder im Viereck des Turmes abwärtsschritt, nach Norden bog, nach Westen, nach Süden, nach Osten: Er wandelte also die endlosen Windungen hinab, sah durch all die vielen, sich gleichenden Fensterchen, die Himmelsrichtungen darin sauber aufgereiht in immerwährender Folge, warf zunächst vielleicht den Blick auf die silbernen, schon mondbeschienenen Höhen von Carmona, dann, rechtwinklig gegen Süden abgebogen, auf die Mauern und Dächer des Alcázar tief unter ihm, dann auf die sinkende Sonne über dem Fluss, die einzige der Orangen ohne Baum und dem Mond auf der anderen Seite des Turmes entgegengestellt, sah dann, wieder einen Knick weiter, das Meer der Stallungen, Gärten und Hütten im Norden – all diese Gemälde gleichartig eingefasst im Stein der Giralda.
Du verstehst? Nach jeder Wendung, zackig ausgeführt wie beim Exerzieren und somit wie im Schlaf, erscheint ein neues Bild, immer zur Linken, der bösen Seite: Nord, West, Süd, Ost …
Dieser ständige Ruck des Kopfes aber tut dem Gehirn nicht wohl, bald dreht es sich mit dem Schädel nicht mehr mit, bleibt zurück, und es schwindelt dir. O ja, hab’s selbst erlebt.«
»Was dann?«, rief der vorlaute Knirps. »Das ist ja noch gar nichts!«
»Wart’s ab. Noch schreiten wir weiter die Bilderkette entlang, abwärts, abwärts. Da zeigt sich wieder der Mond; steht er nicht schon höher als zuvor, leuchtet er nicht heller? Danach der Alcázar, dessen Dächer uns entgegenwachsen – tief schon ist der Wanderer in den Turm hinabgestiegen –, dann wieder die Sonne, o weh, nur noch knapp über dem Horizont, schon von Baumkronen zerfetzt und dunkelrot wie verlöschendes Feuer; und abermals die nördlichen Viertel und Plätze, die Innenhöfe nun wie schwarze Schachteln, mit Finsternis ausgeschlagen, darin erste Lichter und Leuchten für die Nacht aufbewahrt; und dann erneut das silbrige Licht des Mondes, heller schon als seine Gegenspielerin drüben über Fluss und Meer.«
»Der steigt jetzt in den Keller hinunter«, flüsterte ein zweiter Junge, den es angenehm gruselte. »Zu den Ratten und Skeletten.«
»So schritt der Wanderer abwärts«, fuhr Montoya fort und nickte. »Seine Gedanken woanders, bei der Geliebten vielleicht, oder den Ahnen, den Toten – oder auch nur beim Bedenken eines philosophischen Problems. Dafür eignen sich die Abendstunden gut, nicht wahr? Denn wie aus einem Guss sind dann Melancholie und Nachdenken über den eigenen Tod.«
»Melancholie, was ist das?«, fragte der Junge seinen Nachbarn.
»Etwas ganz Schlimmes«, sagte dieser.
Curro ließ sich nicht unterbrechen: »Ja, es wurde Abend, dann Nacht, und der Abstieg endete nicht. Schon lange waren die Fensterluken dunkel geblieben, die Ausstellung war zu Ende, doch der Caballero bemerkte es nicht. Durch die Scharten sah man nun in finstere Gewölbe, in Keller und Höhlen, dann auf Erdschichten, aus denen Brocken in den Gang rieselten, auf Wurzelgeflecht und dann auf blanken Stein, in dem winzige Kristalle glitzerten wie Sterne. Doch nicht nur der Nachthimmel war in den Boden versenkt – denn man befand sich längst tief unter der Kathedrale, viele Turmlängen tief –, nein, auch die Planeten und Sonnen hatte man unter Tage gestopft: Die ewige Rampe schimmerte nun in silbrigem Licht, und aus der tiefsten Tiefe drang flackerndes Rot.
So bin ich wohl der Sonne in ihren Untergang gefolgt, dachte der einsame Mann, doch kam ihm alles vor wie im Traum. Er wunderte sich nicht und ging weiter.
Und dann endlich kam er ans Ende der Treppe: Die letzte Windung tat sich auf und mündete in eine Tür, aus der rotes Licht glühte wie aus einem Ofen.
Der Caballero trat ein oder vielmehr hinaus, denn nun fand er sich auf einem steinernen Balkon, hoch oben an der Spitze einer anderen Giralda, dunkel wie Ruß, und blickte über zerklüftetes, schwarzrotes Land unter einem ebensolchen Himmel, aus Pech oder aus Nichts gemacht, ohne Gestirne, ohne Sonne und Mond.
Nein, das rote Licht war nichts anderes als der Widerschein von Flüssen aus glühendem Fels, von herabstürzender Lava, Wasserfällen gleich, doch aus geschmolzenem Stein und mit Funkenschwärmen darüber, zischend über dem Dröhnen und Poltern der Brocken, die wie
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