Klar sehen und doch hoffen
machen. Umfassend. Ein Glücksfall für mich: Richard Friedenthal »Luther – sein Leben und seine Zeit«. Endlich begriff ich die Weltperspektive der Reformation, warum dieses Nest mit »dem Wort allein« so wirkmächtig werden konnte und was ein Kairos ist. »Kein Zweifel aber kann darüber herrschen, daß Luther da gestanden und sein ›Nein‹ gesagt hat zu dem Befehl, zu widerrufen. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Augenblickes war damals kaum jemand klar, am wenigsten dem jungen Kaiser Karl V., der diesen Fall eines rebellischen Dozenten an einer kleinen, ihm unbekannten Universität im Kurfürstentum Sachsen entscheiden sollte.« 36
Mich interessierte der Gesellschaftsreformer, der eben nicht nur eine Kirche, sondern eine ganze Welt reformieren wollte. Also las ich seine Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« wieder. Kirchlich wie politisch brisante Textpassagen verband ich mit aktuellen gesellschaftspolitisch relevanten Fragen in einem Beitrag für das Buch »Mit Luther im Gespräch. Studientexte für die Gemeindearbeit«, das mein Kollege Hansjürgen Schulz herausgegeben hat. Keine künstliche Aktualisierung war nötig. Das Buch kam durch die Zensur. Mein Name durfte damals nirgendwo vorkommen. Wie ich 2011 lese, hatte die Stasi meine möglichen staatsfeindlichen Pläne für Luthers 500. bereits 1981 im Visier und wirkte auf den als »Bernstein« geführten IM Dr. Schulz ein. Dieser hat mich aber nie verraten. So war das. Ich hab akzeptiert, wenn auch nicht verstanden, dass er »mit denen« redete.
Während der Ansprache Richard von Weizsäckers auf dem Marktplatz zum Kirchentag in Wittenberg, 1983, unter den Gästen Hildegard Hamm-Brücher
Friedensdekade mit Stationsgebeten am 9. November 1983 in Wittenberg
Zum Kirchentag im September 1983 hatte ich für den Abschlussgottesdienst auf dem Markt nicht nur die Predigt konzipiert, sondern auch einen fiktiven Dialog mit Martin Luther vorbereitet, von niemandem »abgenommen« als von unserem Vorbereitungskreis. Die junge Krankenschwester Karin Schumann aus unserem Gesprächskreis saß auf einer Leiter, die die Köpfe der Menschen überragte, und fragte über Lautsprecher Luther und Melanchthon. Beide antworteten mit tiefer Bassstimme aus dem Nirgendwo. Wer kann heute noch verstehen, wie brisant diese Aktion war?
»Herr Dr. Luther, wir leben in einer sehr gefährlichen Zeit. Alle Häuser, alles, was wir hier sehen, alles, was uns umgibt, kann in wenigen Minuten zerstört sein. Sie haben sich seinerzeit auch über die moderne Rüstung, insbesondere über die neuen schrecklichen Waffen geäußert.«
Luther: »Büchsen und das Geschütz ist ein grausam, schädlich Instrument, zersprengt Mauern und Felsen und führt die Leute in die Luft. Ich gläube, daß es des Teufels in der Hölle eigen Werk sei, der es erfunden hat, als der nicht streiten kann sonst mit leiblichen Waffen und Fäusten. Gegen Büchsen hilft keine Stärke noch Mannheit, er ist todt, ehe man ihn siehet. Wenn Adam das Instrument gesehen hätte, das seine Kinder hätten gemacht, er wäre vor Leid gestorben.«
1983 ahnten wir natürlich nicht, wie relevant alle jene Sätze, die zunächst den liturgischen Teil eines Gottesdienstes darstellten, für die politische Wirklichkeit werden sollten. Wir haben die Fragen just am 31. Oktober 1989 des Nachts vor dem Lutherdenkmal wiederholt. Diesmal stellte ich die Fragen, und der Superintendent Albrecht Steinwachs schlüpfte in die Rolle Luthers, er sagte u. a.: »Wir, die wir das Wort führen, dürfen nicht mit der Faust kämpfen.«
Bereits für 1983 war das Luthermuseum in der »Lutherhalle« grundlegend umgestaltet worden. Die Auseinandersetzung mit Müntzer und dem Bauernkrieg spielte plötzlich eine, wie ich fand, ungerechtfertigt geringe Rolle. Luther sollte wieder einmal vereinnahmt werden.
Die neben dem Portal angebrachte Sandsteinplatte mit der Inschrift »Lutherhalle Wittenberg« musste der Steinmetz noch in der Nacht wieder rausschlagen und eine neue einfügen, auf der stand » Staatliche Lutherhalle Wittenberg«. Der zuständige Minister Kurt Löffler kam mit dem CDU-Vorsitzenden Gerald Götting, mit größerem Gefolge und leerem Pomp zur Eröffnung.
Mit Freunden hatte ich die Idee, gegenüber dem »Größten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt« (in der größten DDR der Welt) ein Spaßmuseum einzurichten. Wir nannten es LUTHEUM. Darin waren die Nierensteine Luthers, dasNest
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