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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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weiterzuschreiten …
    Wer keine gelingende Identität findet, auch in seiner Geschichte, kann kein stabiles, nach außen und innen friedensförderndes Staatsgebilde aufbauen. Stabil ist ein Staat u. a. dadurch, dass die Bürger sich aus Freiheit darin integrieren, und dass die Bürger ein Selbstbewusstsein entwickeln, das nicht auf der Abgrenzung gegen andere begründet ist … Die Gesellschaft muss von der Allgegenwart der Partei befreit werden … Angstfreie Diskussionen über alle anstehenden Fragen, ohne das vorherige Rückversichern nach oben, echte Konkurrenz und Kompetenz können erst entstehen, wenn die Doppelstruktur von Partei- und Staatsapparat aufgehoben wird. Eine lebendige Gesellschaft im Gegensatz zu einemKasernenhofsystem braucht vielfältige, staatsunabhängige, organisierte Ausdrucksformen für die Wahrnehmung ihrer unterschiedlichen Interessen oder Ziele … Die bisherigen Blockparteien sind faktisch im Block der Partei. (Beifall) … Soviel scheint mir heute schon sicher: Der ökonomische Nach-»Mittag«-Weg * wird kein Spaziergang sein … Mein Resümee: Entweder der Sozialismus von Peking bis Berlin ist zu einer grundlegenden Reform fähig, oder er verschwindet erst mal, auch wenn er als Diktatur weiter bestehen mag, als missglücktes, gut gemeintes, aber mit untauglichen Mitteln ausgeführtes Menschheitsexperiment … Wir haben die Wahl, noch, hoffentlich. Aus diesem Raum heraus kann ich nur sagen: Lasst uns die Wahl. (starker Beifall)«
    Ich hatte bewusst öffentlich zuerst »auf eigene Kappe« in Leipzig reden wollen, bevor ich im relativen Schutzraum der Synode des Kirchenbundes in Eisenach 10 Tage später ans Mikrofon gehen wollte, um die Krise unseres Landes anzusprechen.
    Wir waren ohne Probleme nachts wieder zu Hause angekommen. Irgendwie glücklich. Es bewegte sich was – aber dass die Bewegung bald massenhaft werden würde, ahnten wir nicht. Ich war auf Lager gefasst. Gefasst.

    * Anspielung auf Günter Mittag, 1976 – 1989 im Politbüro des ZK der SED für Wirtschaft zuständig.

VOM AUGUSTINERKLOSTER ÜBER DIE SCHLOSSKIRCHE ZUM MARKTPLATZ
LUTHER: WEDER HEILIGER NOCH STINKENDER MADENSACK

    Predigen will ichs, sagen will ichs, schreiben will ichs. Aber zwingen, mit Gewalt dringen, will ich niemanden.
    Martin Luther
    Im Sommer 1978 aus der verfallenden Stadt Merseburg, aus der »Straße der DSF« mit furchtbar quietschenden Straßenbahnen, im Volksmund »Dubčeks letzte Rache« genannt, nach Wittenberg, gekommen, genoss ich täglich den Blick aus unserem Küchenfenster auf den Lutherhof mit Eiche, Linde, Buche und Tulpenbaum, mit Quellbrunnen und Katharinenportal. Um Dr. Luthers Konterfei steht – in Latein natürlich – sein Lebensleitmotiv: »Im Stillesein und Hoffen wird eure Stärke sein.« Stille steht für Konzentration und Kontemplation. Und Hoffen für das innere Gespanntsein auf Größeres, etwas, das wir Menschen nicht machen, wohin wir uns aber aufmachen können.
    Hier also hat er gelebt und gelehrt, gegessen, getrunken, gesungen und gelitten. Ich wollte mich vertieft mit ihm beschäftigen, diesem vom mansfeldischen Namen Luder zum Eleutherius, zum Befreiten, eingedeutscht Luther, mutierten Christenmenschen und genialen Bibelübersetzer und Bibelausleger Dr. Martinus.
    Mein Interesse war nie ein bloß historisches, sondern ein wirkungsorientiertes. Bald führte ich in- und ausländische Gäste, vor allem amerikanische Gruppen durch die Schlosskirche. In den Sommermonaten übernahm ich das zeitweise vomkundigen Küster Bernhard Gruhl. Ich konnte verstehen, warum Nietzsche Kirchen als Grabstätten des toten Gottes erlebt hatte: finster, leblos, kalt. Der sperrige wilhelminische Raum trieb mich immer zur Auseinandersetzung an und ließ mich fragen: Was galt damals und was gilt vom Damaligen noch heute? Allmählich wuchs ich in diesen Raum hinein, in dem neben dem Altar ein kerneichener riesiger Kaiserstuhl prangt.
    Die Wirkungsorte, die Wirkungsart und die Gedankenwelt Luthers berührten mich existenziell. Den Glauben als ein »Stehfest des Herzens« zu begreifen und einen jeden sein zu lassen, der er ist, um selber zu bleiben – und zu werden! –, der man ist. »Strick ist entzwei und wir sind frei«, so hatte er gereimt, und Fontane hat’s gut verstanden:

    Tritt ein für deines Herzens Meinung
Und fürchte nicht der Feinde Spott,
Bekämpfe mutig die Verneinung,
So du den Glauben hast an Gott.

    Es stand für 1983 Luthers 500. Geburtstag an. Also wollte ich mich kundig

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