Klar sehen und doch hoffen
der Wittenbergischen Nachtigall und eine riesengroße Muschel zu besichtigen, die der finnische Reformator Mikael Agricola dem oft verdüsterten Luther zur Dämpfung seiner Depressionen geschenkt hatte (natürlich eine Erfindung).
Ich hatte bei Ausgrabungsarbeiten den Hammer gefunden, mit dem Luther die Thesen angenagelt hatte sowie den ersten Laienkelch, den Karlstadt während der Abwesenheit Luthers zwangsweise auch für Altgläubige (Katholiken) eingeführt hatte. Selbst den Wurzelstock der Lutherrose hatte ich in Katharinas Garten ausgehoben. Leder des Sattels, auf dem Luther gesessen hatte, als er auf eigene Kappe von der Wartburg im Februar 1522 nach Wittenberg geritten war. Neu entdeckte Auszüge aus Luthers Tagebuch, die die ganze wissenschaftliche Welt in Aufruhr versetzen sollten (kurz nach der Entdeckung der Tagebücher Adolf Hitlers im »Stern«), waren zu bestaunen neben dem großen Löffel, mit dem Katharina die ungezogenen Kinder gezüchtigt hatte. Dann habe ich mich, soweit ich an Quellen herankommen konnte, über Luthers Hochzeit informiert, und wir haben im vorderen Teil des Lutherhofes, den wir zum exterritorialen Gebiet des Predigerseminars erklärt hatten, Luthers Hochzeit inszeniert und gefeiert. Das Szenarium war sehr einfach, der Gesang fröhlich, der Ulk groß, ohne dass der Inhalt fehlte: Schließlich galt Luthers Hochzeit kurz nach Ende der Schreckens des Bauernkrieges als ein umstrittenes Symbol.
1996 wurde der 450. Todestag Luthers mit vielen Symposien, Kongressen und Vorträgen begangen. Zusammen mit dem Historiker Dr. Volkmar Joestel entwickelte ich die Reihe »Luther lesen«. An 41 Abenden haben wir eine Stunde Texte Luthers zu verschiedenen Themen mit kleinen Überleitungen vorgetragen. Das Interesse der städtischen Bevölkerung hielt sich in Grenzen, aber wir hatten immer eine ausreichendeund hochinteressierte Zuschauerschar. Worum ging’s? Freiheit und Mündigkeit, die Türken und die Juden, Wortmacht und Machtwort, gemeinen Nutzen und Wucher, das Gottesvolk und den Pöbel, menschliche Existenz zwischen Gott und Teufel, den Poeten und den Polemiker, die Musik und die Poesie. Zwei Lesungen sind mir in besonderer Erinnerung geblieben: »Luther in Worms 1521«. Ich las die überlieferte Rede Luthers, an deren Ende jene legendären Sätze gestanden haben sollen, die aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gesagt worden sind: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.« 37
Ich habe die gesamte Verteidigungsrede in zwei Versionen vorgetragen: in einer kämpferisch-heldischen und in einer nachdenklichen, zaghaften, suchenden. Wie hat er sie wirklich gehalten? Ich spüre seinen Worten den Mut zur Angst ab. Und die gewonnene innere Freiheit, nachdem er alles gesagt und gewagt hatte.
Unsere letzte Luther-Lesung sollte die schmerzhafteste werden. »Luther und die Juden«. Nach etwa 30 Minuten riefen Besucher empört: »Aufhören, aufhören! Das ist nicht zum Aushalten.« Hatte Luther 1523 über die Juden geschrieben: »Sie sind die Vettern und Brüder unseres Herrn«, so sollte er 20 Jahre später hasserfüllt fordern, »dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte«. Wie konnte derselbe Mensch so diametral entgegengesetzte Urteile abgeben? War er von Feindbild-Phobien getrieben, spiegelte er nur das Denken der damaligen Zeit, brachte Enttäuschung den alten kranken Mann zu solcher Raserei? Letztlich bleibt das unerklärlich. Zu rechtfertigen ist es sowieso nicht.
Schon 1996 deutete sich an, wozu man ihn missbrauchen würde: Luther-Socken und Luther-Zwerge. Richtig böse geworden, vermerkte ich damals, ahnend, was uns noch unterder touristischen Oberherrschaft drohen würde: »Die DDR hat Luther vermarxt, heute wird er vermarktet, auf jeden Fall wird er vermurkst.« Der von einem der führenden Aufbauhelfer aus der Stadtverwaltung bereits 1994 für gutes Geld eingeladene PR-Berater zur besseren Vermarktung der Lutherstadt empfahl sich als ehemaliger Wahlkampfleiter Willy Brandts und schlug uns allerlei Luther-Devotionalien-Handel sowie breite Schichten ansprechende Events vor. Der katholische Abgeordnete Dr. Rainer Haseloff, jetziger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, warf ein, das wäre wohl für Protestanten schlecht zumutbar. Auch ich wies Nepp-Strategien ohne inhaltlichen Bezug zurück, worauf mich der PR-Berater öffentlich als Schaden für die Stadt
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