Klar sehen und doch hoffen
zur großen Chance des Herbstes. Es gibt wohl keinen Satz, der die Wut der Menschen mehr angestachelt hat als jene Bemerkung im ND, die Erich Honecker persönlich eingefügt hatte: Man solle denen, die weggehen, »keine Träne nachweinen«. Wenn ich Honecker für irgendetwas danken sollte, dann für diesen Satz.
Christa Wolf richtete von Westberlin aus über mehrere Radiostationen einen dringenden Appell an die Menschen, hierzubleiben und für Veränderung zu wirken. Die Liedermacher, die Schriftsteller, die Theaterleute muckten auf und traten aus ihren Rollen. Reihenweise traten Genossen aus der SED aus. Ohne diesen Verlust ihrer innerern Legitimation wäre der Aufbruch kaum gelungen. Es waren vor allem die Sachsen, die vorangingen und dem demokratischen Aufbruch die erste Massenbasis gaben. In Plauen, Dresden oder Leipzig.
LASST UNS DIE WAHL! ZUM AUF TAKT DER FRIEDLICHEN REVOLUTION AM 4. SEPT. 1989 IN LEIPZIG
Viele meiner öffentlichen Reden, Vorträge, Diskussionsbeiträge, Predigten hat »die Firma« entweder nach Band abgeschrieben oder ausführlich von Spitzeln aufschreiben lassen, z. B. die Ausführungen vor amerikanischen Kongressabgeordneten im Lutherzimmer des Wittenberger Hotels »Goldener Adler« 1988 oder einen Vortrag in der Studentengemeinde 1982 in Merseburg über Feindbilder.
Besonders pikant wirkt es – und auch ein wenig beglückend für mich! –, dass man meine Rede vom 4. 9. 1989 in Leipzig (nach einer Sendung des SFB) vom Band abgeschriebenhat. Das waren recht eigentümliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Partei- und Staatsführung – auf solch krudem Wege! Mit dreien meiner engsten Freunde war ich dorthin gefahren, nicht ohne Bangen, ob wir wieder nach Wittenberg zurückkommen würden. Die Lage in Leipzig war unmittelbar vor der Messe äußerst angespannt. Einige Hundert Leute waren gekommen (nach Stasiangaben 400). Nach Vortrag und Diskussion blieben 50 Jüngere zum Nacht-Gespräch. Junge Leute, die nicht weggehen wollten, das hat mich damals in einer Atmosphäre lähmender Resignation ermutigt.
In der Nachschrift heißt es:
»Liebe Freunde, in einer aufgeregten und emotionalisierten Situation sich nicht anstecken zu lassen, sondern Ruhe zu bewahren, ist schwer. Ruhe in dem Sinn, dass wir bedächtig bleiben und den Blick nicht trüben noch vom Wesentlichen abwenden lassen … Ich spreche aus, was jetzt angesprochen werden muss, in der Hoffnung immer noch, dass die Zeit für den großen gesellschaftlichen Dialog noch nicht verspielt ist. Für alle, die hier weiter mitbauen wollen und nicht sagen: ›Umsonst‹. So verzeihen Sie mir, wenn ich heute Abend alle recht herzlich begrüße, die mit einem Sachinteresse und nicht mit einem Sicherheitsinteresse hergekommen sind. (Beifall) Verzeihen Sie mir bitte. Ich bitte darum, dass sich alle an der Diskussion beteiligen, die es weiter mit diesem Lande, den Menschen hier wagen wollen. Für die anderen habe ich zwar Verständnis, auch Traurigkeit, aber wir haben uns jetzt leider nichts Hilfreiches mehr zu sagen. Ich meine: Dennoch sind die, die gehen, Indikatoren unserer Gesamtsituation. Hier nehmen sie ihre Verantwortung nicht mehr wahr. Warum nicht? Ich glaube, weil sie das Gefühl haben, eher zerrieben als gebraucht zu werden. Und ich sehe, wie die Generation meiner Tochter, die 18- bis 20-Jährigen,fragen: ›Sollen wir das genauso machen wie du? Auch 20 Jahre warten oder gleich gehen?‹ Das sitzt tief.
Die Mündel schrien [fliehen – Hörfehler der Stasiabschreiber] aus dem Haus des Vormunds … Wir sind krank, wohl jedenfalls alle infizierbar. So rächt sich an uns die politische Doppelexistenz. Wenn sie nun tausendfach fehlen, die jungen Leute, die Fachleute, die Krankenschwestern – dazu das dunkle Gefühl der Ratlosigkeit in allen … Solange regierungszeitungsamtlich die Flüchtlinge in Anführungszeichen gesetzt werden, als verführbare Objekte dargestellt, als Verräter klassifiziert, deren Wert an ihren vom Staat in sie investierten Geldern gemessen wird, die sie jetzt nicht mehr dem Staat zurückgeben, und nicht als Personen, die wir verloren haben …
Die Reform- oder Erneuerungsbedürftigkeit unseres Landes geht weit über die Reform- und Erneuerungsbedürftigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR hinaus … Wir alle leiden noch an Ideologien, die nach Marx falsches Bewusstsein sind. Ideologien, die uns einflüstern, mit unserer Ressourcenverschleißzivilisation sei so weiterzumachen, sei so
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