Klar sehen und doch hoffen
überdeckte, von dem unbegreiflich kargen Gemüse- und Blumenangebot, vom trüben Bier, von der Überdüngung der Gewässer und dem staatlich verordneten Schweigen darüber, von permanenter fürsorglicher Belagerung durch politische Schulung, von der Nötigung zu drei Jahren Dienst in der Volksarmee, von täglicher Indoktrination durch Zeitungen und Rundfunk, vom Verfall der Städte mit Preisung der Krebsgeschwüre am Rande der alten Städte, vom Schweigen über die gigantischen Verbrechen Stalins, auch Chruschtschows und Maos, von der Stasi.
Wie geistig verknöchert, menschlich schäbig, intellektuell hohl, emotional arm, aber anmaßend und selbstherrlich war jene Führungsriege, die sich Politbüro nannte und aus dreizehn älteren Männern bestand, die ganz und gar nicht mit der Weisheit des Alters gesegnet waren. Misstrauen herrschte als Prinzip untereinander, Angstmachen galt als hauptsächliches Herrschaftsinstrument. Vierzig Jahre sollte diese wohlmeinende Belagerung dauern, und wer mochte noch Anfang Oktober 1989 glauben, dass dieser Spuk alsbald ein Ende, ein so schmähliches, finden würde? Ich nenne es ein Wunder, dass es einen zivilisierten Übergang aus der Ein-Parteien-Diktatur in Strukturen der Demokratie gab. Ich will den Kommunisten beim Abschied wenigstens nachsagen, dass sie die Machtinstrumente, über die sie noch verfügten, nicht mehr einsetzten und uns ein Blutbad erspart blieb.
Die Aufgabe, dem überwundenen System mit »verführtem Denken« auf den Grund zu kommen, ist noch nicht abgeschlossen. Warum sind so viele durchaus wohlmeinende Menschen dieser Ideologie gefolgt, haben sich der Parteilichkeit der Wahrheit unterworfen, weil sie glaubten, mit dem sozialistischen System beginne die Weltgeschichte neu? Zugleichkonnten Ostdeutsche aus eigener Kraft eine Diktatur abschütteln. Um umfassende Bürgerrechte für alle geht es jetzt – in der Demokratie. Sie sind nie selbstverständlich. Sie brauchen immer Subjekte. Der Marxismus hat sich erledigt, der Marktismus harrt noch seiner Bändigung.
DER UNVERGESSLICHE 4. NOVEMBER UND SEIN MEHRWERT
Der 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehört zu den denk-würdigsten, würdigsten, Würde stiftenden Tagen meines Lebens.
Bis heute streift die Erinnerung an diesen Tag etwas Unwirkliches. Als seien Hoffnung und Fantasie und Zuversicht von irgendwo fernab zu uns herniedergestiegen: Seht her, es gibt uns, aber nur, weil es euch gibt. Wir – das waren schier Unzählige auf und rund um den Berliner Alexanderplatz, vereint bei der größten Massenkundgebung in der Geschichte der DDR, ein gewaltiges gewaltlos agierendes Forum für Meinungs- und Pressefreiheit. Von heute aus, im Rückblick, will einem scheinen, dass ein System erst an den äußersten Schmerz seiner Existenz kommen muss, damit derart viel Freiheit und Atemschwung geschehen kann. Was an diesem Tage seinen wunderbaren Lauf nahm, erinnerte an die großen, legendären, überwältigenden Theateraufführungen der Französin Ariane Mnouchkine auf öffentlichen Plätzen von Paris: Festspiele eines sich als historisch begreifenden Bewusstseins der vielen, Augenaufschlag einer fast schon in den Schlaf der Resignation gesunkenen Zeit, allumfassendes Erwachen durch den Laut der eigenen, aufrührenden Stimme. Die Mnouchkine ließ in den Siebzigern und Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts in ihren Inszenierungen die FranzösischeRevolution und andere Volksmut-Ereignisse auferstehen, und Geschichte glich einem Volksfest. Das Theatralische im besten Sinne des Wortes prägte diesen 4. November: Wir machen allen vor, was es heißt, sich nicht länger etwas vormachen zu lassen und auch sich selbst nichts mehr vorzumachen.
An diesem Novembertag einer depressiv knirschenden, stier in die eigenen glanzlosen Propagandaplakate blickenden DDR, der keine Droge aus krähend lauter Selbsttäuschung mehr aufhalf, zeigte Politik ihre im Kampf der Egoismen so oft verschüttete Impulskraft für eine erhebende Gemeinsamkeit. Wir machten den Mund auf und trainierten heiter, geistvoll, mit vernünftigem Zorn die Mündigkeit. Wir nahmen kein Zeitungsblatt mehr vor den Mund, sie sanken kapitulierend herab, diese Blätter, die die Nacktheit des Staates verhüllen sollten, Feigenblätter statt Zeitungen, die doch stets die blödeste Entblößung des Systems bildeten.
Besagte Unwirklichkeit, die jenem 4. November anhaftet, kommt aus der Natur aller Sternstunden. Sie sind plötzliche, blitzschöne Einsprengsel in den
Weitere Kostenlose Bücher