Klar sehen und doch hoffen
geschichtlichen Abläufen und in den energiedimmenden Grundregelwerken des politischen Geschäfts. Was auf dem Alexanderplatz möglich wurde, war bestens vorbereitet und verlor doch in keiner Sekunde den Charakter des beglückend Unvorhersehbaren. Das Wunder vollzog sich nach Plan und blieb doch Wunder. Wir wussten, was zu geschehen hatte in jenen aufregenden Stunden, und wussten trotzdem nicht, wie uns geschah.
Ich war von Theaterschaffenden eingeladen worden, insbesondere vom Chefbühnenbildner der Staatsoper, Wilfried Werz, und Christian Ladwig, der im Maxim-Gorki-Theater arbeitete und zu den Mitbegründern des »Demokratischen Aufbruchs« gehört hatte. Um nach Berlin fahren zu können, musste ich mich vom Präses der Synode unserer Magdeburgischen Kirche freistellen lassen. Es war Reinhard Höppner,der spätere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Die Stasi hat mein Telefonat vom 30. Oktober 1989 mit Renate und Reinhard Höppner in einem Protokoll festgehalten, das Zeugnis von der Atmosphäre jener bewegenden Tage gibt.
»Sch. erklärt, dass er Sonnabend früh wegmüsste und abends wieder da wäre. Am Mittwoch zu der Geschichte kommt er aber, obwohl ihm das auch schwerfällt (vermutlich in Vorbereitung der Synode).
Im Gespräch entscheidet sich (Höppner) dann ganz spontan, dass Sch. das machen soll. Sch. gibt noch zu verstehen, dass er es mit einem schlechten Gewissen tun wird, wird er es aber nicht tun, ist die ganze Sache stark von Berlin geprägt, und das möchte er nicht zulassen. Die ganze Synode wird sowieso davon tangiert werden, stellt (Höppner) fest. Sch. betont, um in der kirchlichen Arbeit sich weiter engagieren zu können, hat er sich in ›ihrer Gruppe‹ nicht mit in den Vorstand [gemeint ist der Demokratische Aufbruch ‒ F. S.] aufstellen lassen. Er möchte auf der kirchlichen Strecke Wesentliches mit weitermachen. Sch. stellt noch fest, dass sie morgen in Wittenberg einen großen Tag haben. (Höppner) seinerseits führt aus, dass bei ihnen heute Abend im Dom auch was ist, aber sie haben sich entschlossen, ob da 20 mehr oder weniger bei den 30- oder 50 000 wandern, ist egal, ob aber die Sache bedacht wird, ist nicht egal.
Das ist richtig, hält Sch. fest, und der Einzelmensch bleibt immer noch der wichtigste! 30. 10. 1989 – 19.20 Uhr – unterzeichnet Aßmann
(Information Ka. 11187 OV »Johannes« vom 30. 10. 1989) «
(Also ganz doof war der Herr Aßmann wahrlich nicht, wie dieser Auszug aus der Gesprächszusammenfassung zeigt, nicht einmal bösartig. Die Schwärzungen konnte ich problemlos ausfüllen.)
Ja, der Einzelmensch war und bleibt mir das Wichtigste. Auf der Kundgebung in Berlin sollte ich, wie alle Redner, vier Minuten das Wort erhalten. Über Solidarität und Toleranz sollteich sprechen. Vier Minuten. Eine schwierige Redezeit. Sie verpflichtet zu Deutlichkeit, erlaubt nicht allzu viel Differenzierung – der Kraft der klaren Worte steht also die Gefahr gegenüber, dass Sprache Vokabular wird.
Und warum ich? Vielleicht eine Nachwirkung des Fersehinterviews vom August 1989 im Luthergarten, des ARD-Gesprächs mit Claus Richter im September in Eisenach, wo ich von einer Implosion des Systems geredet hatte oder wegen der Entschlüsse jener in diesem bedrängenden, bedrückenden Jahr stattgefundenen Bundessynode mit ihren die friedliche Revolution befeuernden und zugleich besonnenen Beschlüssen. Augenmaß und Deutlichkeit schließen sich nicht generell aus. Wir hatten endlich Klartext geredet. Wir berührten sodann im November in Erfurt auf der Provinzialsynode unmissverständlich ein Thema, das auch die Kirche sehr lange und sehr geduldig und zu sehr nüchtern-realistisch als Tabu hingenommen hatten, nämlich: die elendigen Machenschaften der Staatssicherheit und die speziellen Pressionen, denen Menschen permanent ausgesetzt waren, die im DDR-Grenzgebiet lebten. Und ich war einer von drei Synodalen, die endlich offen von der Staatssicherheit und deren Machenschaften gesprochen hatten, aber immer noch gedämpft.
Ich hatte, mit Herzklopfen, für den 4. November zugesagt und kam am Vorabend mit dem D-Zug in Berlin an. Wilfried Werz holte mich am Bahnhof ab. Wir gingen in eine Szenekneipe, zu der ich sonst wohl keinen Zugang gefunden hätte. Ich erfuhr von großer Anspannung in der Stadt – es sei zu befürchten, dass die Stasi Provokateure in der demonstrierenden Masse verstecke. So könnte das Regime Gewaltausbrüche »organisieren« und fände Vorwände, selbst gewalttätig
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