Klar sehen und doch hoffen
– es dauert nur noch Sekunden, und es gibt kein Zurück ‒, sich gleich freiwillig unzähligen Augenpaaren auszusetzen. Das ist die Schwelle, die zu überwinden ist. Denn: Öffentlich zu werden hat stets etwas Unnatürliches (das sage ich auch als Pfarrer, der verstohlen eine Kanzel besteigt!), es ist ein Akt gegen die schützende Scham. Man darf dieses Bewusstsein vom Widernatürlichen des öffentlichen Auftritts, das in einem Ausbruch des Schamlosen besteht, nicht hervorkitzeln, man muss dies Bewusstsein unterdrücken – das ist die erste schwere Arbeit des Schauspielers, die zur allabendlichen Gewohnheit wird. Weil man sonst nicht hinaufkäme und hinaufwollte, auf eine Bühne hinauf. Oder auch nicht mehr auf eine Kanzel. Zwar spricht der Schauspieler fremde, der Pfarrer eigene Texte, aber nur jener Schauspieler ist glaubwürdig und erschütternd,der im Dichtervers sich selber offenbart, sich hineinfallen lässt ins Wesen seines ureigenen Ausdrucks. Und so fühlte ich auf dieser improvisierten Bühne des 4. November die Schwelle einer herzpochenden Scham (Was mache ich hier? Wieso denn ich? Was maße ich mir an?), und im nächsten Augenblick, da ich die Schwelle des Bedenkens überschritten hatte, ein Tausendstelsekunden-Vorgang, fühlte ich das Glück, die Beseeltheit: Ich schaute in unzählige, unglaublich wache, aufgeschlossene, gelöste Gesichter. Es leuchtete eine neue, wohltuende Wahrheit auf; die politischen Klassiker des Systems waren von Marxismus und Leninismus befreit. Die Idee wurde zur politischen Gewaltlosigkeit, indem sie die Massen ergriff.
Die Massen, das waren auch viele SED-Mitglieder, die schon lange am Kurs, am Krebs ihrer Partei litten – ein »Neu«-Generalsekretär Egon Krenz, der sich in jenen Tagen dem Untergang zu entwinden hoffte, indem er sich an die Spitze der Reformer stellte und damit doch nur den Grad seiner Lächerlichkeit unrettbar erhöhte, er spielte ihnen mit seiner Machterhaltungspose und -posse den bösestmöglichen Streich. Der Bock als Gärtner. Krenz hatte in seiner Antrittsrede am 18. Oktober fatal unintelligent den Begriff der Wende benutzt und ihn damit entehrt – so, wie er später den Aufruf »Für unser Land« durch seine Unterschrift völlig entwürdigte. Dass er so in die neu anbrechende Zeit stolperte, elefantenartig – er muss selbst unter seinen engsten Beratern große Feinde gehabt haben! Und doch erfüllte er eben nicht die in ihn gesetzten Befürchtungen. Auch er verdient ein Quäntchen Respekt.
Aber, wie gesagt: Sollte man nur deshalb, wegen fortdauernder Lageverkennung an der Spitze, die kritische, duldende, heimlich hoffende Masse der Sozialismus-Gläubigen, die Menge der rechtlich unangreifbaren SED-Leute in toto von künftigen politischen Prozessen ausschließen undsprichwörtlich reinen Tisch machen? Ich jedenfalls war und blieb der Auffassung, dass wir Bürgerbewegungen weder über ausreichend Kräfte noch über ausreichende Kompetenz verfügten, um das Land künftig allein zu steuern. Und überhaupt: allein – es ist kein demokratisches, es ist ein diktatorisches Wort.
Am 4. November war noch nicht im Mindesten an deutsche Einheit zu denken. Reformer aus der SED wie Hans Modrow wollten in den folgenden Monaten einen Übergang in die parlamentarische Demokratie einleiten – unter Einbeziehung der neuen politischen Gruppen. Und sie wollten natürlich retten, was noch zu retten war, zuallererst ihre Haut. Mit dem ersten Zentralen Runden Tisch am 7. Dezember 1989 würde dies so überraschende wie konfliktreiche Wirklichkeit werden. Das aber hatte die vielen runden Tische im Lande zur Voraussetzung. Die Berliner vergessen das zuweilen.
An diesem 4. November schien eine wahrhaft alternative, humane, volksdemokratische deutsche Republik möglich – durch den Schulterschluss (wenn dieses Wort nicht auch schon so verbraucht wäre) von Künstlern, Oppositionsgruppen und kritischen, reformbereiten SED-Mitgliedern, die nicht zur bisherigen Nomenklatur gehört hatten. Dazu zählte aus meiner Sicht auch der vier Wochen später zum Vorsitzenden der SED-PDS gewählte Gregor Gysi.
Rückblick: Als ich im Vorfeld des 4. November in den problemgeladenen, konfliktvollen, also anstrengenden, mich persönlich sehr fordernden Sitzungen der Synode saß, hatte ich ein paar Sätze formuliert über Toleranz und Solidarität:
»Ich soll am 4. November über Toleranz reden. Aber: Ist das die Stunde der Toleranz? Die Herrschenden haben uns das Dulden und eine fatale
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