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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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zu werden, natürlich aus reiner Ordnungspflicht. Die Gerüchte sprachen sogar von stasi-präparierten Skinheads.
    (Wir haben im Februar 2011 sehen können, wie dieses Prinzipweltweit funktioniert: Polizistenhorden in Zivil waren, in verdecktem Auftrag, auf den Tahrir-Platz in Kairo beordert worden, um Gewalt und damit Chaos zu produzieren – um dann das alte Regime als einzige Normalisierungs- und Stabilisierungsmacht zu re-installieren. Logisch: Es gab im autoritären Mubarak-Regime eine Million Polizisten und sehr viele Nutznießer, die mit der Abschaffung des diktatorischen Systems die eigene Lebensgrundlage einbüßten. Ähnliches geschah nach den Wahlen im korrupten Weißrussland 2010 – hier noch mit Erfolg für das Regime. Auch der Arbeiter-und-Mauern-Staat sorgte für Arbeitsplätze en gros, an jener unsichtbaren Front der Denunziationsameisen, die man entweder wirklich nicht bemerkte oder aber schon Kilometer gegen den Wind »roch«, in ihren verkrampft unauffälligen Billigklamotten und ihrem ungelenken Hang zur Pärchen-Grüppchen-Bildung …)
    Es kam der Morgen des 4. November. Geschlafen hatte ich schlecht, nicht weil ich in der Wohnung meiner Tochter Uta auf einer bloßen Matte gelegen hatte, sondern weil ich furchtbar aufgeregt und meine Rede nicht fertig war. Uta arbeitete zu dieser Zeit am Berliner Ensemble, bei dem legendären Maskenbildner Eddi Fischer, der bereits bei Benno Bessons Welttheater-Ereignis »Der Drache« vor Jahrzehnten jene monströse, mehrköpfige Titelgestalt erschaffen hatte, für die es jedes Mal Sonderbeifall auf offener Szene gab. Uta war am BE untergekommen, weil ihr von der SED-Administration jeder Studienplatz verwehrt worden war. Ich übertreibe in meinem Groll? Es hatte eine ausdrückliche Anweisung der Staatssicherheit gegeben, jegliche Studienmöglichkeit für meine Tochter in der DDR zu verhindern. Schließlich hatte sie im Herbst 1987 eine Arbeit über »Demokratie und Sozialismus bei Rosa Luxemburg« geschrieben. Man hielt diese Arbeit in der Schule für eine Provokation und für eine Inspirationfür jene Demonstranten vom 17. Januar 1988, die beim offiziellen »Karl-und-Rosa«-Ritual in Berlin-Friedrichsfelde den erstarrten Partei-Greisen Plakate mit unbequemen Zitaten der Luxemburg entgegengereckt hatten.
    Auf dem Alexanderplatz, 4. November 1989
    Wir gingen von Friedrichshain zum Alex und sahen, wie die Menschen aus allen Straßen herandrängten, mit zusammengerollten, selbstgefertigten Plakaten. Ich stellte mich vorBeginn des Redemarathons in den Strom der Demonstranten und schrieb in mein kleines rotes Büchlein auf, was auf den Transparenten zu lesen war. Es nimmt wohl nicht wunder, dass einige mich anpöbelten, weil sie mich für einen Stasispitzel hielten. Zumal ich ein rotes Notizbuch verwendete. Als wollte ich doppelt provozieren und auftrumpfen. So weit waren wir gekommen: Dass jeder jedem misstraute. Aber wir waren auch so weit gekommen, und just dieser Tag würde es hinauserzählen in die Welt: Es wurde gesagt, was man dachte! Und erstaunlich, herzerweckend, welcher Witz plötzlich aus dem Gemüt der Bevölkerung schoss, sich zu wunderbar pointierten Zeichnungen und Losungen verdichtete. Was sich auf dem Alexanderplatz zur aufmunternden politischen Botschaftermenge formierte, war eine Vollversammlung der politischen Aphoristiker. Da schrieb sich eine Anthologie des glasklaren, scharfen, bissigen Volksbewusstseins ins Buch der Geschichte. Seltsam schön, wie lange doch der intelligente Verstand in den Grauzonen des befohlenen Denkens fast unbeschadet überwintern kann! »Auferstanden aus Ruinen«, diese Zeile aus der DDR-Nationalhymne, die bekanntlich nicht gesungen werden durfte, kam mir mit einem Mal verblüffend treffend vor: Ja, wir waren auferstanden aus den Ruinen unserer Verzagtheit, aus den Ruinen dieser propagandistischen, lügnerischen Öde, die uns täglich falsche Bilder von Errungenschaften ins Hirn zu drücken anschickte. Die SED war eine Ruine, der gesamte Überbau stand auf tönernen Füßen, die zitterten, und der Kalk rieselte. Auferstanden nun aus Ruinen – und der Zukunft zugewandt wie noch nie in diesem verdämmernden System, in dem die Lichter bereits ausgingen.
    Wir Redner versammelten uns zuvor in einem Lokal, direkt hinter einem provisorisch zu einer Tribüne umfunktionierten Lastwagen. Alles erinnerte an Frühzeiten der öffentlichen Versammlungen, die Agitation kehrte gleichsam inihre Kindheit aus Abenteuer und

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