Klar sehen und doch hoffen
Unaufwendigkeit zurück. In diesem kleinen Lokal saßen sie nun alle: jene, die gleich reden sollten, und all diejenigen, die diese Veranstaltung vorbereitet hatten. Auch Günter Schabowski, Berlins SED-Chef und Mitglied des bis eben noch allgewaltigen Politbüros betrat den Raum, in Begleitung von drei oder vier seiner Paladine, die mit routinierten Blicken sofort den Raum ausgemessen, inspiziert und für sicher befunden hatten. Er saß isoliert an einem Tisch. Keiner wollte etwas mit ihm zu tun haben. Was ging wohl vor in diesem Menschen, von dem die Macht abgefallen war, wie Blätter im Herbst von einem Baum fallen. Wie nackt und bloß, wie bloßgestellt musste er sich vorkommen. Das hatte seine Gründe und war auch die verdiente Folge all der Anmaßungen, die mit der Macht verbunden waren. Aber, um bei dem Vergleich mit dem Laub zu bleiben: Auch all jene Folgsamen fielen in Windeseile von so einem Menschen ab, als seien sie nie schmückende Blätter dieses mächtigen Baumes gewesen. Diese Dialektik widerspiegelte das Bild des einsamen Mannes da am isolierten Tisch. Mir bereitete die objektive Lage Schabowskis Genugtuung. Zugleich berührte mich seine persönliche Situation, und mich empörte, dass er nun wie ein Paria gemieden wurde. Als hätte es nie und von keinem das Bemühen gegeben, je in der nützlichen Nähe der regierenden und dirigierenden Herren zu sein … Aber freilich: Warum sollte dieser Fall und warum sollte dieser Tag bei aller Euphorie nicht auch ein Spiegel jener Schule der Geläufigkeit sein, die Politik allemal prägt? Selbstverständlich wollten an diesem Tag zu viele flugs auf den Zug der Veränderung aufspringen und vergessen machen, was sie vorher gesagt, getan oder eben: nicht getan hatten. Demonstrierten da nicht auch jene mit, die bis gestern eifrige oder feige oder gar gleichgültige Boten der SED-Lügen gewesen waren? Jetzt freuten sie sich ihrer Freiheit, und es war ihnenzu gönnen – aber dachten sie jetzt wirklich auch an jene, die den Boden dieser Stunde bereitet hatten, die seit schier ewigen Zeiten medial Stimmlose, öffentlich Verschwiegene, gesellschaftlich Verstoßene, übel Beleumdete bleiben mussten?
Ich setzte mich zu Schabowski. Welch seltsamer Augenblick, die Erfahrungen meines gesamten Lebens mit dieser Partei schienen mir durchs Gemüt zu schießen; es war, als sei diese bislang so gewaltige und gewalttätige SED ein Mensch, mit dem man nun plötzlich ganz normal reden könne. Ich wollte wissen, was in dieser Partei derzeit vorgehe, und ich sagte ihm so bedauernd wie mit Groll ins Gesicht, dass die Opposition auf Anhieb kaum schon in der Lage sei, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen – da die SED ja die Herausbildung und Festigung einer handlungsfähigen Opposition in vierzig Jahren systematisch und kalt verhindert, ja erbarmungslos bekämpft habe. Ich meinte daher, das Land nun nicht ohne Mitglieder aus dieser 2,3-Millionen-Partei neu aufbauen zu können. Dieser Äußerung würde ich Jahre später wiederbegegnen. Aber es zeigte sich einmal mehr, dass auch Erinnerung stets in Diensten neuer Legitimierungsmühen steht, also kein feststehendes Urteil, sondern ein gar wendiges Ding ist. In seinen Erinnerungen nämlich schrieb Schabowski, ich hätte ihn und seine Genossen ganz selbstverständlich mit »Ihr« und »Euch« angeredet und zudem behauptet, sie seien »die Fachleute« in corpore. Das war wohl seine Art der Gegenwehr – ich hatte ihn inzwischen als einen der zynischen Wendehälse bezeichnet, er schlug in seinen Büchern zurück und nannte mich einen »rotlockigen Kirchen-Oberseminaristen«. Bloß gut, sage ich mir heute, dass dieser ideologische Einpeitscher, der sich über Nacht um 180 Grad gedreht hatte, nicht noch einmal die Gelegenheit haben wird, sich wiederum um 180 Grad zu drehen. Sein radikaler und selbstanklägerischer Antikommunismus strahltden gleichen unangenehmen Brustton aus wie sein scharfes Reglement während seiner sieben Jahre Chefredakteurszeit beim ND. Schabowski bediente sich stets einer unbedingten »Un«-Rhetorik: unverdrossen, unumkehrbar, unwiderruflich, unzweifelhaft, unerschütterlich, unverbrüchlich, unverzüglich … So wird man – unerträglich und, zum Glück für viele, eines Tages untragbar.
Dass die erwähnten Günter Schabowski und Markus Wolf auftraten, wird von manchem noch immer als Versuch der SED bewertet, sich die Herrschaft durch listige Annäherung an die politischen Gegner zu bewahren und Zustimmung zu den
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