Klar sehen und doch hoffen
Form der Toleranz gelehrt – wir sollten sie erdulden und tolerieren, die Arroganz ihrer Macht und ihre Privilegien, ihre nur scheinbare Allwissenheit, ausderen Pose heraus sie jeden Dialog verweigern. Das sollten wir tolerieren? Ist dies jetzt nicht vielmehr die Stunde der rücksichtslosen Aufdeckung, des Weckreißens des Schleiers, der Phrasen, der Verharmlosungen? Und wir sollten die Ringparabel aufsagen, wonach die Wahrheit in der wetteifernden gleichberechtigten Tätigkeit läge. Aber sie behaupteten, sie hätten die alleinige Wahrheit gefunden. Ich soll über Tolerenz reden?
Haben sie uns nicht auch dieses Wort zerredet und zerlogen? Sie ließen Solimarken kleben und appellierten an unser Solidaritätsgefühl. Ist nicht jetzt die Stunde der De-Solidarisierung und der Abrechnung mit 40 Jahren Drangsalierung?
Wir brauchen die Solidarität der Ohnmächtigen gegen die Machthaber, die sich lediglich am Wahltag wieder als Dachdecker, Maurer und Drucker präsentierten.
Wir brauchen Toleranz und Solidarität. Ohne sie kommen wir nicht aus. Wir müssen sie neu lernen, wie eine neue Sprache. Wir dürfen die Verantwortlichen nicht niederschreien.
Aber sie müssen sich ihrer Verantwortlichkeit auch stellen. Köpfe sollen nicht rollen, aber Stühle müssen freigemacht werden, freiwillig, denn mit manchem Namen ist eine politische Wende nicht glaubwürdig.«
Das waren meine ersten Überlegungen für den 4. November. Dann, als es so weit war, saß ich im D-Zug von Erfurt nach Berlin, in einem Abteil allein, grübelnd, mich zerquälend, plötzlich erschrocken, dass ich es wagte, mit so wenigen Notizen nach Berlin zu fahren. War denn überhaupt noch etwas auszurichten angesichts dieser abgewirtschafteten Altherrenriege und ihrer folgsamen 2,3-Millionen-Partei?
Nach dem 4. November, nach diesem Tag auf dem Alexanderplatz, fühlte ich mich wie ausgewechselt. Ja, es war etwas auszurichten! Wir alle fühlten uns wie ausgewechselt. Ja, esschien möglich, miteinander anzupacken und dieses zerrüttete Land neu zu bauen – und wir bräuchten dazu eben auch viele aus der SED, einer Partei, die nicht nur aus Karrieristen, Ideologen, aus Stasi und gewissenlosen Dümmlingen bestand. Also auch die Mauern im Lande selbst überwinden!
Meine Rede ist längst Vergangenheit, ihre Ursache und ihr Anlass sind verflogen, allein: Die Probleme, die Konflikte bleiben oft das hartnäckig lastende Gepäck, das wir in neue Kapitel unserer Existenz mitschleppen, und es ist schon erstaunlich, wie einstige Kritiker des stalinistischen Systems, couragierte Streiter für Bürger- und Menschenrechte nunmehr, in den gewünschten, aber neuerlich aufreibenden, alles andere als idealen Zuständen still, fast ergeben wurden. Ja-Sager neuen Typus …
Wenn ich an den 4. November denke, bleibt der perlende Transparente-Witz des in Berlin versammelten Volkes in Erinnerung, der aber unauflöslich verknüpft blieb mit Besonnenheit und politischem Augenmaß.
Es lebte der Geist des großen D, und das hieß Demokratie, noch nicht Deutschland oder D-Mark. Noch nicht. Dass es uns in der Folge gelang, über die Institution der Runden Tische, über die Regierung der »nationalen Verantwortung« bis zu den vorgezogenen Wahlen im März und dem dramatischen Ringen in der ersten frei gewählten Volkskammer zur deutschen Einheit zu gelangen, sodann auch zur Integration der östlich von uns liegenden europäischen Staaten – alles in allem: ein Glück! Der friedliche, demokratische Umbruch des Herbstes, jene DDR-weite Oktoberrevolution 1989 hat gezeigt, was in den Deutschen auch steckt, eine Massenkraft, vor der keiner unserer Nachbarn (mehr) Angst haben muss.
DER SCHIESSBEFEHL AN DIE NVA BLIEB AUS
Ich war Mitglied des Ständigen Ausschusses für »Kirche und Gesellschaft« der Synode der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg. Ich legte dort am 12. September 1989 – vor jeglicher Demonstration auf den Straßen! – meine Auffassung zur möglichen kirchlichen Mitverantwortung für Demonstrationen dar. Ich verstand gut, dass einzelne Mitglieder in großer Sorge davon abrieten, denn wir würden bei Demonstrationen mitverantwortlich für mögliche tödliche Folgen sein. Hatten wir nicht die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens gesehen? Wollten wir das verantworten?
Ich fasste meine Auffassungen zusammen, endend mit einer Frage.
• In Extremsituationen der Gesellschaft, wo andere Mittel der Willensbekundung versagen, können auch Demonstrationen kirchlich
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