Klar sehen und doch hoffen
mitverantwortet werden.
• Erstes Prinzip ist Gewaltlosigkeit. Dieses Prinzip gilt auch weiter, wenn Gewalt von der Gegenseite ausgeübt wird. Auch verbale Zurückhaltung ist geboten, wie andererseits Anliegen klar und deutlich verbalisiert werden müssen: » Wir sind das Volk!«
• Demonstrationen dürfen nicht aus dumpfen Gefühlen kommen, sondern brauchen ein erkennbares und umgrenztes gesellschaftliches Ziel.
• Demonstrationen sind Solidarisierungsrituale größerer Gruppen, die wieder auf geregelte Gespräche aus sind und einen stockenden Dialog wieder in Bewegung bringen wollen.
• Die Kirche als Ort und Raum kann Ausgangspunkt von Demonstrationen werden, aber nicht der Vorbereitungs und Organisationsort sein.
• Die christliche Gemeinde kann nur in Extremsituationen(z. B. im Eintreten für Verfolgte, Eingesperrte usw.) Bürger in Situationen führen, deren Konsequenzen sie nicht übersehen, aber zu tragen haben.
• In diesem Lande DDR wird sich erst etwas ändern, wenn wir bereit sind, uns mit unseren Leibern für grundlegende Änderungen einzusetzen.
• Provokateuren und Gewalttätigen, die die Demonstrationen zu instrumentalisieren suchen, muss der, der für Demonstrationen verantwortlich ist, entgegentreten und sich von ihnen trennen.
• Eine Masse ist leicht verführbar und schwer berechenbar.
• Eine Zeit kommt nicht wieder, in der Menschen bereit sind, aus ihrer Nische herauszutreten. Ist jetzt die Zeit, der Kairos, für solches Heraustreten?
Wenn das Wahrnehmungsvermögen der Verantwortungsträger so getrübt ist, dass sie nicht mehr merken, dass sie nicht mehr vom Volk getragen sind, brauchen sie Signale, die sie nicht übersehen können; die anderen Instrumentarien haben sich verbraucht und versagen. Deshalb muss es in Extremsituationen auch gewaltlose Demonstrationen geben, die Christen und auch kirchliche Amtsträger mitverantworten.
DER 9. NOVEMBER IN WITTENBERG
Für den 9. November hatten wir als Trägergruppe der Gebete um Erneuerung mit den Staats- und Parteiorganen verabredet, in allen großen Sälen der Stadt über alle aufgestauten Probleme mit den Verantwortlichen zu reden. Und sie wollten sich stellen. Und sie stellten sich. In der Parteizeitung »Freiheit« vom 9. November war darauf hingewiesen worden, an welchen Orten über welche Themen gesprochen werden würde.
In derselben Ausgabe wurde berichtet von den heftigen Diskussionen auf dem Marktplatz am Dienstag, dem 7. November. Auch davon, wie die Menschen die Mitteilung bejubelten, die mitten in die Veranstaltung hineingeplatzt war, dass die Regierung zurückgetreten sei. Und an jenem 7. November hatten wir in der Schlosskirche die Initiative »Rettet die Cranachhöfe« fortgeführt. In der Zeitung vom 7. November stand, was ein inzwischen nicht mehr auffindbarer Demonstrant am offenen Mikrofon gesagt hatte: »Wir dürfen nicht nur die Erneuerung der SED und des Systems fordern. Was nützt uns ein reformierter Staat, wenn die Menschen, die darin leben, nach altem Schema denken und handeln. Jetzt, wo wir uns mehr Freiheit und Menschenwürde erdemonstriert haben, müssen wir uns auch selber erneuern. Dies tut keine SED, keine LDPD und auch kein Neues Forum für uns. Erst wenn wir nichts mehr unter dem Ladentisch verschieben, kein Material aus dem Betrieb mehr mit nach Hause schleppen, uns nicht mehr auf Arbeit schonen, um nach Freitagabend richtig loszulegen, unsere Gedanken zur Erneuerung auch mit unseren Taten übereinstimmen, kurzum wenn wir die Probleme, die wir jeden Tag erleben, offensiv angehen, wenn wir nicht mehr so tun, als ginge uns nichts an, dann wird die Erneuerung von Mensch und Gesellschaft unser Land für jeden lebenswert und liebenswert machen.«
Wie großartig hat dieser Demonstrant in freier Rede am offenen Mikrofon gesagt, worum es geht, nämlich um die Mitarbeit aller Bürgerinnen und Bürger an der Erneuerung unseres Landes. Das war Demokratie von unten. Das war der entscheidende Impuls, die Erneuerung aus eigener Kraft in die Hand zu nehmen und nicht weiterhin das private Interesse vor das Interesse der Allgemeinheit zu stellen.
An jenem Abend waren Tausende in der Stadthalle versammelt, am Mikrofon bildete sich eine lange, lange Schlange.Als ein Kampfgruppenkommandeur sich rechtfertigen wollte, war es um ein Haar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen; ich bin einfach dazwischengegangen und konnte eine Eskalation verhindern. Ich hab mich mit diesem Kommandeur zur Seite zurückgezogen
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