Klar sehen und doch hoffen
überall laut und lauter werdenden Gedanken an Reformen nur vorzutäuschen.
Auf diesen 4. November zurückblickend, gestehe ich dennoch haltbaren Respekt vor Schabowski wie vor Ex-Stasi-Größe Wolf – beide Repräsentanten des SED-Apparates stellten sich immerhin einem Volk, dem sie bis vor kurzem noch, mit bedrohendem Ernst, die führende Rolle vorexerziert hatten; nun war diese Partei »von der Rolle«, nun mussten sich beide, eben noch unantastbar ganz oben, niederpfeifen und niederschreien lassen – immerhin: Der Volkszorn riss sie nicht herunter vom Podium, das nicht mehr nur ihnen gehörte. Das war die Zivilität unserer friedlichen Oktoberrevolution, die vom 9. Oktober bis zum November 1989 dauerte. Noch vor dem 9. Oktober hatte uns Angst geschnürt. Wie würde das Regime auf die Demonstrationen reagieren? Würde sie jetzt bittere Früchte tragen, die jahrzehntelange Eingravierung eines klaren Feindbildes in die Seelen unzähliger Uniform- und Waffenträger? Was nutzte dies bittende »Keine Gewalt!«, wenn die Mächtigen auf ihrer so ganz anderen Sprache der Knüppel und Knarren beharrten? Wer konnte denn sicher sein, dass es nicht zu einer »chinesischen Lösung« oder zu einem Eingreifen des Militärs wie 1953 inBerlin und 1956 in Budapest und 1968 nach angeblichen Bittrufen von Genossen in Prag kommen würde? Hatte die Staatsgewalt auf dem Dresdner Hauptbahnhof, bei Durchfahrt der Züge mit ostdeutschen Botschaftsflüchtlingen aus Prag, nicht brutal zugeschlagen?
Im Nachhinein ist es unbestritten: Zum Wesen von friedlicher Revolution und nahezu widerstandsloser Öffnung der Mauer gehörten auch politische Besonnenheit und militärische Zurückhaltung der Staats-Gewalten. Aber keiner derjenigen, die sich diesen Gewalten im Sommer und Herbst 1989 entgegenstellten, konnte diese Reaktion vorhersehen. Eine solche Erwartung hätte sich doch überhaupt nicht eingefügt in unsere lebensbestimmende Erfahrung von uneingeschränkter Einschüchterung, dauernd frechem und dumpfem Druck und arrogantem, verachtendem Freiheitsentzug. Und was hatte Egon Krenz nach seinem Chinaaufenthalt über die Richtigkeit der Maßnahmen der KPC verlauten lassen?
Auch diesem 4. November konnte unsereins zunächst nur mit einer Freude begegnen, die noch im Überschwang des Wohlgefühls umschattet blieb von Vorsicht und Misstrauen. Keine nur eingebildete Ansicht: Dass manche weiche Pfote des Dialogangebots noch immer die scharfe Kralle der Macht verbarg. Indes: Die Schatten verflogen an diesem Novembertag schneller, als die schon etwas schütter gewordene Herbstsonne überhaupt aufsteigen konnte.
Ansteckend, souverän, geradezu perlend, wie Theaterschaffende und andere Künstler das Banner dieser Demonstration vor sich hertrugen. Das lachende Gesicht der Schauspielerin Jutta Wachowiak an diesem Tag werde ich nie vergessen. Wie da ein Naturell zum Gleichnis wurde. Die Heiterkeit einer äußeren Erscheinung war ganz selbstverständlich hinübergewachsen in eine andere, eine geistige, ethische Dimension. Brecht sah in der Freundlichkeit einephilosophische Kategorie, der Blick in ein gütiges Gesicht war ihm der Blick in eine »schöne Gegend«. An diesem Novembertag war der totbetonierte Berliner Alexanderplatz die schönste Gegend der DDR.
Faksimile meines Redemanuskripts
Mit meinem handgeschriebenen Gekrakel kletterte ich auf den Lkw, der das Podium bildete. Waren es zehn, zwölf Leiterstufen– oder Tausende? War ich blitzschnell oben, oder dauerte es unendlich lange, und die Unfassbarkeit der Strecke kam von der Aufregung, die mir von innen gegen die Rippen schlug. Beileibe darf ich nicht behaupten, ein öffentlichkeitsscheuer oder -unerfahrener Mensch zu sein, aber jener Moment, da ich hinaufstieg, vollzog sich im Halbdämmer des Bewusstseins. Ich ahnte mich nur, während ich mich doch genau spürte. Ich ging und wurde gegangen. Es gibt Wege, die uns noch am Ziel in Erstaunen setzen, wie wir dahin gelangten. Da stand ich nun am Mikrofon und hörte mich im Widerhall, von sehr ferne und blickte in die Gesichter sehr nahe. Alle schienen mir gespannt, aber keineswegs gedrückt. Eine freie DDR sah mich an.
Dieser Tag war im Wesentlichen von Schauspielern der Berliner Bühnen vorbereitet worden, und plötzlich kam mir jener Moment in den Sinn, der vielleicht der unnatürlichste, härteste so einer Schauspielerexistenz ist. Ich meine den Moment unmittelbar vor dem Auftritt, da einem doch der Wahnwitz der Anmaßung bewusst werden muss
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