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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Sowjetmenschen erniedrige. Gott sei Dank hat sich das geändert. Aber ich denke, dass die Kirche sich zu wenig daran beteiligt. Der Staat unterstützt diese karitativen Organisationen kaum oder gar nicht. Es gibt viel Hartherzigkeit in unserem Leben. Nach dem Ende der Sowjetunion, nach dem Scheitern der kommunistischen Idee sind wir ohne einen Weltentwurf geblieben. Ein Leben, ohne eine Idee vom Leben zu haben, ist schwer. Satt werden allein reicht nicht. Der Mensch braucht mehr. So ist er konstruiert. Glaube, Religion, Kirche, das gibt vielleicht einen spirituellen Lebensinhalt. Dass die Kirche zu einem aktiven Leben in der Gesellschaft zurückkehrt, halte ich nicht für falsch. Vielleicht trägt das zur moralischen Reinigung der Gesellschaft bei, denn Christi Gebote sind eine große ethische Kraft. Vielleicht ist die wahre Religion ein Teil des ethischen oder moralischen Lebens der Gesellschaft. Die Literatur, die Philosophie versuchen, den Sinn des Lebens zu finden. Wosoll der Mensch ihn suchen? Wie kann man dem Menschen helfen? Das sind ernste existentielle Fragen. Zum Teil hilft die Religion. Dafür sei ihr Dank. Die Kunst hilft, die Natur hilft, aber ich denke, jeder Mensch wird irgendwann mal damit konfrontiert, dass er keine Antworten findet.«
    Auf meine anschließende Frage nach Peter dem Großen und Luther kam Erstaunliches zutage: »Der Protestantismus hat ihn interessiert und natürlich auch der Mensch Luther, seine Persönlichkeit, sein Mut damals, die berühmten Thesen an die Schlosskirche zu nageln. Peter hatte ein naives, unmittelbares Interesse an Geschichte, an der Wissenschaft, ein Interesse also, das eigentlich mit dem Erwachsenwerden zurückgeht. Er hatte Kontakte zu den bekanntesten Wissenschaftlern Europas, aber Luther hat ihn am meisten interessiert. Ich bin hier durch Wittenberg gegangen und habe mir vorgestellt, wie Peter dem Geist Luthers begegnet ist. Übrigens ist ja Karl XII. von Schweden im gleichen Hotel wie er abgestiegen. Es gibt in der Geschichte seltsame Zusammentreffen. Und es ist unheimlich interessant, solche Geheimnisse zu ergründen, wenngleich wir nie wissen, ob uns das nun gelungen ist oder nicht. Aber am schönsten an der schriftstellerischen Arbeit ist, dass man zum Verstehen seiner Hauptfigur vordringt, wenn man ihre Taten nicht mehr versteht, wenn sie sozusagen eigenmächtig handelt, unabhängig oder sogar gegen den Willen ihres Schöpfers.«
    Nun, frag ich: Wer weiß 2012 noch etwas mit dem Namen Granin anzufangen? Es bleibt so nötig, einander in vertiefter Weise wahrzunehmen.
    Das Panzerdenkmal in Wittenberg ist längst eingeebnet, der sowjetische Friedhof ist verschlossen, aber gepflegt. Am Arsenalplatz wird ein Supermarkt errichtet. Auf dem Apollensberg ragt ein schlichtes großes Kreuz in den Himmel. Russischals Fremdsprache wird in beiden Wittenberger Gymnasien angeboten – ohne große Resonanz. Eine rührige Deutsch-Russländische Gesellschaft pflegt Partnerschaft nach Mogiljew und organisiert Reisen dort und hier, betreut Kinder aus Tschernobyl-verseuchten Gebieten.
    Ich halte fest, dass wir wieder das bräuchten, was Gorbatschow einmal »Volksdiplomatie« genannt hatte, jenes Rückgrat einer lebendigen, von unten (nach-)wachsenden Völkerfreundschaft.
EIN NVA-OFFIZIER BEKENNT SICH ÖFFENTLICH
    Im Jahre 2010 las ich aus meinem Buch »Wohl dem, der Heimat hat« in Potsdam. Ich sprach auch an, woran die DDR gescheitert sei. Plötzlich stand ein Mann auf und begann ein wenig stotternd zu erzählen. Er sei Offizier der Nationalen Volksarmee gewesen, sagte er. »Ich muss jetzt mein ganzes Leben neu justieren. Ich habe geglaubt, was man mir gesagt hat. Und was ich gesagt habe, habe ich selbst geglaubt. Ich wollte und sollte mein Land schützen. Jetzt erst sind mir die Augen aufgegangen. Ich will jetzt an einer demokratischen und offenen Gesellschaft mitwirken. Mir fällt es nicht leicht hier aufzustehen.«
    Zweimal bekam er spontanen Beifall für seinen Mut. »Ich bin nicht wegen Beifall oder Unmut aufgestanden, sondern weil es mir wichtig ist, mich zu erkennen zu geben. Ich möchte gern als gleichberechtigtes Glied dieser Gesellschaft leben. Aber ich beteuere, die Volksarmee hätte nie auf Demonstranten geschossen. Ich habe einen Eid abgelegt, das Land, unser Land, die DDR gegen äußere militärische Angriffe zu schützen, aber nicht gewaltsam gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen. Dies hätte ich niemals getan. Das warauch nicht im Entferntesten mein

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