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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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des Maroden, Hässlichen, Verachtens- und Beseitigungswerten. Zugespitzt: Der Schmutz fließt rückwirkend immer dicker, er ergießt sich in erstickender Suggestivkraft über eine politisch-soziale Gegend, von der keiner mehr zugeben möchte, er habe da gelebt, ohne täglich an Selbstmord oder Flucht zu denken.
    Durch die Fokussierung auf die klebrigen Hinterlassenschaften der Stasi geriet mehr und mehr aus dem Blick, dass auch jene Gruppen, die sich seit Mitte der siebziger Jahre unter dem Dach der evangelischen Kirchen versammelten, sehrwohl einen grundlegenden Wandel wollten, aber nicht a priori und unabdingbar die Abschaffung der DDR. Wir ersehnten zuvörderst und unaufschiebbar einen Wandel der Welt – der natürlich auch die verkrustete DDR erfassen müsste.
    Man kann ein System hassen, sollte aber die Perspektiven der Opposition abwägend einbinden in die realen Bedingungen des Lebens. Wer die Kategorie des Politischen innerhalb einer Widerstandskultur nur an den ausdrücklichen Zweck bindet, das Regime möglichst sofort und direkt zu treffen, unterschätzt Verhaltensspielräume und verkennt die eigentlichen Machtstrukturen auch des DDR-Staates. Wenn lediglich der heroische Akt gegen das Regime als politischer gewürdigt wird, so liegt dem eine Optik zugrunde, in der die herrschende Macht als monolithisch begriffen wird. Dies behauptete Monolithische aber entzieht dem Umstand, dass die DDR so sang- und klanglos, geradezu biegsam und geschmeidig unterging, seine Logik. Es gibt eine tiefere Schicht von Wahrheit: die komplizierte Verflechtung konfrontativer Dissidentenschaft mit jenen Menschen, die sogar innerhalb der SED-Funktionalität für eine Erneuerung der politischen Praxis eintraten und die dafür im ständigen Widerstreit von Einsicht, offener Kritik und versteckten Winkelzügen aufrecht und loyal zugleich zu leben versuchten – und die letztlich die eigentliche Erklärung dafür sind, warum die DDR so beiläufig verschwand: Zahlreiche SED-Mitglieder und -Funktionäre, auch Künstler und Intellektuelle wirkten mit an jenem Resonanzboden, der die plötzlich eruptiv ausbrechenden oppositionellen Erschütterungen des Jahres 1989 aufnahm und sie verstärkte; unterschwellig befanden sich viele, als die Revolution ausbrach, längst auf der anderen Seite des Grabens. Und an besagtem Resonanzboden wirkten indirekt z. B. jene Künstler mit, die einst die DDR nicht deshalb verlassen hatten, weil sie Bundesbürger werden wollten, sondern weil sieihre Auffassung von Sozialismus nicht von Kommunisten zertreten lassen wollten. In Interviews auf dieses Thema angesprochen, hat der Schauspieler Hilmar Thate, der nach der Biermann-Ausbürgerung mit seiner Frau Angelica Domröse die DDR verließ, stets sehr bestimmt gesagt: »Wir gingen nicht, wir wurden fortgedrängt.« Man lese den rau-romantischen Dichter Thomas Brasch, von Ost nach West »vertrieben ins eigene Vaterland«, der am bundesdeutsch schnurrenden Kunstbetrieb litt, oder Einar Schleef – Unzugehörige, Einsame, die diesen kommunistischen Kleingeiststaat verachtet hatten. Aber sie hingen weiter einer Weltvorstellung nach, deren Ideale der programmatischen »Poesie« von Marx am Ende näher blieben als der nüchternen Rechnungslegung des Marktes.
    Unsere Hoffnung war, dass sich aus der östlichen Mangelwelt ein hoher Zuschuss neuer, alternativer Bescheidenheit keltern ließ. Dafür – in der DDR gegen die DDR – zu wirken, das war uns mehr als nur Taktik. Am Ende muss man sagen: Die Hoffnung, das System in eine ganz andere Richtung zu reformieren, zerbrach. Aber es gelingt mir noch immer nicht, dies Sehnen im Nachhinein kleiner zu reden, als es war.
    Uns in den Kirchengruppen schwebte eine Freiheit vor, in der wir uns als Freie unserer Verantwortung für das Gemeinwesen stellen wollten. Wir strebten nach bürgerlichen Rechten für den Einzelnen, wollten aber die sozialen Menschenrechte gleich hoch achten. Wir strebten eine Umkehr unserer äußeren und inneren Lebensumstände, Haltungen und Handlungsoptionen an. Es ging nicht darum, den moralischen Zeigefinger auf irgendwen zu richten, sondern Immanuel Kants Aufklärungsgedanken von jener öden Praxis der Erziehung anderer wieder an den ursprünglichen Auftrag der Selbstforschung zu binden: Der Gerichtshof über die Verursacher des gefährlichen Weltzustandes aus Massenvernichtungsmitteln, Naturzerstörung und Hunger ist auch injedem Einzelnen aufgeschlagen. Der Einzelne vermag wenig, aber weit mehr, als

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