Klar sehen und doch hoffen
Die Angst sitzt jeden Tag mit am Tisch, inzwischen bereits in der Mittelschicht. Dumpfe Ohnmachtsgefühle mit tiefer innerer Verunsicherung breiten sich aus.
In der demokratischen Freiheitsbewegung der DDR hatten wir eine indianische Weisheit verbreitet: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, dann werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.«
Geld muss ein Mittel bleiben und darf kein Selbstzweck werden. Ich sage mir als Christ: Wenn wir für diese Welt noch zu irgendetwas taugen sollten, dann mögen wir zu denen gehören, die die Konsequenz aus der Erkenntnis ziehen, dass ein Mittel – Geld – nicht zu einem Ziel werden darf und Verfügung über Zahlungsmittel noch keine Sinnstiftung ist. Mir leuchtet ein wie nie zuvor, was Luther im großen Katechismus schrieb: »Es mag sein, daß man gleich jetzt stolze, gewaltige und reiche Wänste findet, die auf ihren Mammon trotzen, ohne darnach zu fragen, ob Gott zürne oder lache, als könnten sie sich wohl trauen, seinen Zorn auszuhalten … Es ist mancher der meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Gut hat; er verlässt sich darauf und brüstet sich damit so steif und sicher, daß er auf niemand etwas gibt. Sieh, ein solcher hat auch einen Gott: der heißt Mammon; darauf setzt er sein ganzes Herz. Das ist ja auch der allgemeinste Abgott auf Erden.« Ja, wir können absehen, wohin der alles bestimmende Gott »Mammon« uns führt, wissenaber nicht, wie wir der Verselbständigung der regellos global agierenden Finanzwelt Einhalt gebieten können. Ich finde es äußerst bedenklich, wenn Linke, die eine Alternative zur heutigen Dominanz der Geldwelt über die Demokratiewelt, also auch einen Systemwandel – auf der Grundlage unseres Grundgesetzes – suchen, verdächtigt werden, Verfassungsfeinde zu sein. Wozu dieser Verfassungsschutz, der samt seinen V-Leuten nicht in der Lage war, ein zehn Jahre lang aktives Mördertrio ausfindig zu machen, aber Abgeordnete der Linken eifrig observiert? Das Gespenst des Kommunismus ist in den Köpfen der Antikommunisten noch immer lebendig – wahrlich ein Phantom aus Zeiten des Kalten Krieges. Gilt nicht Artikel 14 Absatz 2, wonach Reichtum auch verpflichtet und nicht die Rendite zum höchsten Gut erklärt wird?
DIE WENDE WAR NOCH KEINE UMKEHR
Von dem Kabarettisten Peter Ensikat stammt der witzig-böse Gedanke, die DDR habe sich um internationale Anerkennung bemüht, sich dieser Aufgabe schließlich ganz ergeben, sie quasi schwitzend, ungebremst ehrgeizig und selbstvergessen erfüllt, aber dabei die Hauptaufgabe tödlich missachtet: sich um die nationale Anerkennung durch das eigene Volk zu kümmern. Das enttäuschte Volk wandte sich ab, und eines Tages machte es Schluss mit der leidigen Angelegenheit: Es revolutionierte.
Das Erstaunliche dieser Revolution bestand sowohl in der für die deutsche Geschichte unerwarteten Tatsache, dass sie überhaupt stattfand, als auch in ihrer demonstrativen Friedfertigkeit. Der so lange behinderte, nun ungehemmt ausbrechende Freiheitswille schlug nicht in Gewalttätigkeit um.
Dies Wunder verleiht jeder Erinnerung nach wie vor denAnschein, als rufe man mit konkreten Ereignissen jener Zeit immer auch unwiderlegbar etwas Unwirkliches an. Man rieb sich bei dem, was im Herbst 1989 geschah, die Hände wie die Augen. Man hatte zwar begriffen, was die Stunde zu schlagen bereit war, konnte es aber dennoch nicht ganz begreifen. Der Volksmund lallte »Wahnsinn« und hatte just in dieser, im Grunde blöden Vokabel das Wesen der Situation, die man nicht erfassen konnte – erfasst.
Zur seltsamen Nachwirkung von Wundern gehört freilich, dass sie mit der Zeit den Charakter ihrer schlagartigen Erscheinung verlieren und sich, wie alles, in Logik verwandeln: Als sei damals die Weiche nach genauem Fahrplan und ausgefeilter Arbeit an Richtung und Ziel aufs neue Gleis umgesprungen. Also: Als sei der Sturz der DDR mehrheitlich und von Beginn an ein unbändiger, jahrelang beschworener Volkswunsch gewesen. Als hätte man in der DDR nicht gelebt, sondern nur gewartet. Als wäre der DDR-Bürger von jeher ein heimlicher Bundesbürger gewesen, ein Mensch in tief verinnerlichter Emigration.
Der verständliche, wahrhaftige Stolz auf besagte Oktober-und-Novemberrevolution im Demonstrationsherbst 1989 verstärkt diesen Eindruck bis heute, zumal die öffentliche, mediale Reflexion über die DDR hauptsächlich konzentriert bleibt auf Bilder
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