Klar sehen und doch hoffen
Muschkote.
Als im Jahre 1987 der Jahresausflug des »Hauses der sowjetischen Kultur und Wissenschaften« mit dem Bus nach Wittenberg geführt hatte, hatten wir viele Kuchen gebacken, die Tische festlich gedeckt. Wir wollten uns als gastfreundliche Deutsche zeigen und merkten, wie verhalten, um nicht zu sagen distanziert, unsere Gäste sich verhielten. Einer beäugte immer noch den anderen. Wirklich menschlich warmherzigen Kontakt konnten wir nicht herstellen, obwohl unter uns einige Teilnehmer gut dolmetschen konnten. Waren alle vorher noch gebrieft worden, dass wir eine staatsfeindliche Gruppe seien, die Verbindung zur CIA hätte? Wie ich 1990 von meinem Kontaktmann und ehrlich freundschaftlich verbundenen Towarischtsch Sorin erfuhr, hatten die Mitarbeiter diese Reise in die DDR als die schönste der ganzen Zeit bewertet. Davon hatten wir aber nichts gespürt.
Freund Sorin arrangierte Anfang November 1989 ein Gespräch zwischen mir und dem stellvertretenden Botschafter Igor Maximytschew. Er wollte aus erster Hand wissen, wie die Stimmung im Land sei und welche Chance eine reformierte SED noch hätte, von welchen politischen Orientierungen diese Opposition bestimmt sei, inwieweit dieser demokratische Aufbruch in der DDR auch mit der Idee der deutschen Einheit verknüpft sei. Ich saß ganz allein mit ihm in einem vielleicht acht oder zehn Meter hohen Raum, war vorher von einem Begleitoffizier durch riesige, unbewohnte und unbelebte Räume gegangen. Hier fror mich ein Gefühl für das an, was Stalinismus mit Monumentalismus als Kleinmachen des Menschen bewirkt und was architektonische Überdimensionierungüber das politische Selbstverständnis aussagt. Das Gespräch mit Igor Maximytschew war offen, um nicht zu sagen spontan, von Sympathie getragen. Daraus sollte sich eine bis heute wirkende Freundschaft ergeben. Er wurde Anfang der 90er-Jahre selber Botschafter in Deutschland, arbeitet bis heute an der Akademie der Politischen Wissenschaften in Moskau.
Ich erinnere mich an seine bewegenden Worte, als Russland zur Zeit Jelzins in einer tiefen Krise steckte: »Russland wird nicht untergehen, weil das unvorstellbar ist. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, kommt der Morgen«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. Und er war es auch, der mich anrief, als die Deutschen dabei waren, sich im Kosovo an einem nicht von der UN legitimierten Krieg zu beteiligen.
15 Jahre lang habe ich stets im Januar/Februar zu einer Russland-Tagung eingeladen, stets mit Gästen aus Russland, stets mit aktiver Beteiligung der Deutsch-Russen, die unter uns leben. Das Interesse an den inneren Entwicklungen in Jelzins und Putins Russland einschließlich der grausigen Kaukasuskriege war groß. Wieder spielten die russische Literatur und kulturelle Tradition eine Rolle, immer suchten wir nachzuvollziehen, wie sehr Russland nach der dreiundsiebzig Jahre währenden bolschewistisch-kommunistischen Zeit die »russische Idee« suchte, ohne in autoritäre Muster zurückzufallen. Swetlana Geier trug so unvergesslich ihre Erfahrungen beim Übersetzen Dostojewskis vor, ein persönlicher Berater Gorbatschows, nun in Paris lebend, gab Einblicke in die gebundenen Hände des einst mächtigsten Mannes der Welt. (Sehr Ähnliches erlebt die Welt 2012 bei Obama.)
Daniil Granin, nun hochbetagter ehemaliger Panzerkommandant und berühmter Schriftsteller, den ich zweimal (in Leningrad 1990, dann in St. Petersburg 2006) besucht hatte, sagte zum Abschluss meiner Tagungsreihe im Februar 2007auf meine Frage hin, wie es jetzt mit der Barmherzigkeit in Russland stehe: »Heute gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende barmherziger oder karitativer Organisationen. Das genügt natürlich nicht. Viele Menschen haben durch die Perestroika und die Reformen gelitten. Sie wurden gleichsam aus dem Leben katapultiert, sie haben sich selbst verloren. Sie haben angefangen zu trinken, sind obdachlos geworden. Viele Kinder leben auf der Straße, und die karitativen Organisationen oder auch die Gruppen der Barmherzigkeit haben es schwer, da tätig zu werden. Aber der Begriff der Barmherzigkeit, das Wort ist in den Sprachgebrauch zurückgekehrt. Das Wort war verboten, es sei kleinbürgerlich, hieß es. Der Staat habe den Bedürftigen zu helfen, nicht eure Barmherzigkeit. Ich weiß noch, was für Schwierigkeiten ich nach diesem Essay hatte. Vor meiner Wohnung wurde demonstriert, man hat dort Plakate aufgestellt, dass ich diese Gesellschaft der Barmherzigkeit organisiert hätte, die den
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