Klar sehen und doch hoffen
seine Bequemlichkeit ihm einreden möchte. Frei sein für die Hinwendung zur bewussteren, weniger erdplündernden Existenz – sollte dies nicht gerade in jenem System möglich, ja zuvörderst nötig sein, das uns fortwährend sein geschichtsrettendes und -heilendes Wesen in die Ohren blies?
1989 stand vor den Schranken des geschichtlichen Gerichts ein System, das den Menschen vergesellschaften wollte. Das Urteil der Geschichte fiel eindeutig aus. Aber steht nicht auch die freiheitlich-demokratische Ordnung längst vor Schranken eines Gerichts? Die Welt ist doch nicht gut geworden nach dem Ende des Kalten Krieges. Vielleicht wird sie niemals gut, aber rechtfertigt das, sich erneut freiwillig mit Blindheit zu schlagen und den Zorn zu dämmen? Angesichts einer Welt, die hauptsächlich nur an ihrem Wert für unsere Verwertungsgier gemessen wird.
In den Basisgruppen oder in Synoden der Evangelischen Kirchen, gebündelt in den Abschlusspapieren des Konziliaren Prozesses vom 30. April, wurde eindringlich auf die Konflikte verwiesen, die seither immer größere Ausmaße annahmen und uns klare Optionen zuweisen: Kampf gegen die Armut, Stärkung der Gewaltfreiheit, Schutz der Schöpfung.
Aber wie sehen die Resultate aus? Auf der Weltklimakonferenz im Dezember 2009 in Kopenhagen wurde über unser aller Zukunft geredet und – nichts entschieden. Die UNO-Klimakonferenz 2010 in Cancún wurde nur mit Müh und Not vor dem totalen Scheitern bewahrt. Der grenzenlos herrschende Kapitalismus steigert seine Effizienz, doch statt einer Halbierung der Armut bis 2015 steht uns ein Jahrhundert ungeahnter Lebensmittelnöte bevor. Eine Milliarde Menschen hungern. Die Weltfinanzkrise stürzte die bedürftigen Länder tiefer in die Aussichtslosigkeit. Die Dürrekatastropheneinerseits und die Überschwemmungskatastrophen andererseits, Wirbelstürme, Klimaerwärmung bis zum Abschmelzen der Polkappen sind Vorboten einer Zukunft, deren Vorzeichen wir spüren, deren global irreversible Folgen wir jedoch verdrängen. Weltweit grassiert die Privatisierung öffentlicher Güter, die allen gehören und alle zum Leben brauchen. Dies betrifft insbesondere das Wasser, das Coca-Cola oder Nestlé aufkaufen, wo sie nur können. Der übermächtige Saatgutkonzern Monsanto gibt genmanipulierte Saat aus und macht damit die Empfänger auf Dauer abhängig.
Mir tun die Fakten weh, und weh tut mir, wie wir uns raushalten und uns aushalten lassen vom Reichtum einer Welt, die uns doch nicht gehört. Seit der Implosion des Ostblocks ist mehr denn je die Rede von der unteilbaren Welt, ja dem globalisierten Dorf. Die Konsequenz dieser erhebenden Unteilbarkeit bestünde aber vor allem in der unteilbaren Verantwortungsbereitschaft für einen Planeten, auf dem eines zur bittersten Wahrheit wurde, nicht zuletzt nach dem Unglück im Atomkraftwerk von Fukushima: Nie wieder wird es eine Situation geben, in der die Menschheit unfähig zur Selbstvernichtung ist. Wir sind gezeichnet. Wir erleben keine Katastrophen, wir sind die Katastrophe. Eine schreckliche Bilanz tausender Jahre, die man gern unter den Begriff der Höherentwicklung stellt.
Höherentwicklung? Die Abrüstung der Atommächte kommt nicht voran. Was tun wir Europäer – und deren Kirchen – dafür, dass weiter »Schwerter zu Pflugscharen« geschmiedet werden und das Konzept »Gemeinsame Sicherheit« gilt?
Wir haben 1989/1990 ein bedrückendes System überwunden, aber einen zerstörerischen Zivilisationsweg nicht verlassen. Eine grundlegendere Wende als in jenem Herbst steht uns ins Haus, wenn wir uns und unseren Enkeln die Lebensgrundlagenerhalten wollen. Nein, keine Wende, sondern: Umkehr! Ganz im Sinne des polnischen Aphoristikers Stanisław Jerzy Lec: »Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! Aber: Wie gelangen wir zu den Tätigkeitswörtern?«
KONFLIKTE IM KOMMUNALEN ALLTAG DER DEMOKRATIE . BAU AUF, BAU AUF …
Es gibt Sätze, die sind pure Hoffnung, feste Entschlossenheit und zugleich Gebilde einer galoppierenden Fantasie. Aber solche Sätze, die Zustände und Zeiten überspringen, brauchen wir. Der Zustand, das waren die Cranach-Höfe in Wittenberg, die Zeit, das war die DDR, und der Satz, der beides übersprang, lautete: »Wenn es mal anders kommt, bauen wir alles wieder auf.« Freunden aus dem Westen sagte ich diesen Wunsch- und Willenssatz immer wieder, er war auch gegen die eigene Beschämtheit gerichtet. Denn wer den Verfall der beiden Wohnhäuser und Wirkungsstätten Lucas Cranachs des Jüngeren
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