Klar sehen und doch hoffen
sei sie aus dem Schuldienst entlassen worden. Also hatten wir Vertrauen zu ihr. Wenn ich heute über sie nachdenke, muss ich eingestehen, dass sie uns als Person nie wirklich nahe war. Aber das sind Empfindungen im Nachhinein, und schließlich waren wir kein abgeschotteter Kreis, in den man erst nach gründlicher GesinnungsprüfungZugang erhalten hätte. Das ist oft die schwere Prüfung unter diktatorischen Bedingungen: dass man nicht selber so misstrauisch und beäugend wird wie die Bewacher, denen man sich fortwährend ausgesetzt fühlt.
Lange sträubte ich mich innerlich dagegen, Einsicht in die mich betreffenden Akten zu nehmen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit der unsäglichen Lügen. Ich fürchtete den Schwall der Gemeinheiten, der mir entgegenschwappen würde. Ich wollte nicht noch einmal vorgeführt werden, es schien mir ein nachträglicher Triumph der Krake, wenn ich mich dazu herabließ, ihr schändliches Werk überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gewiss würde ich, wenn ich die Akten läse, aufgewühlt von den Entdeckungen menschlicher Niedertracht unmittelbar in meiner Umgebung. Ich weiß nicht genau, was mich letztlich doch dazu trieb, Mitte der 90er-Jahre einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Neugier? Gewissheit? Am meisten bewog mich wohl die Sehnsucht nach einem Sieg über diese flächendeckende Maschinerie, ich wollte bestätigt wissen, dass sie im Übermaß gestöbert, zersetzt, zerrieben, gekramt, bedrängt, verletzt, vergiftet hat – aber ihr die Herrschaft über unser Leben doch nicht gelang!
In den Berichten steht freilich viel Unverfrorenes, das nach wie vor schwer aushaltbar ist. Ich sage das als jemand, der den Schutz der Privatsphäre jedes Menschen zu den großen Errungenschaften der Zivilisation zählt. Ausgerechnet die Spitzel der Stasi vermelden, ich hätte in der Gemeinde, in den kirchlichen Gruppen Stasiangst und -hysterie verbreitet. Mich bespitzeln, rund um die Uhr, aber gleichzeitig mit Unverständnis und in anklägerischem Ton mitteilen, ich sei auffallend vorsichtig und würde behaupten, die Stasi begleite quasi ständig unser Leben, und zwar in eindeutig böser Absicht. Als Beweis wird angeführt, dass ich mit einem IM in den düsterenKeller gegangen sei, um ihm nach Verhörmethoden von Diktaturen die Kerze ins Gesicht zu halten und zu fragen, ob er bei der Stasi sei. Das ist ziemlich grotesk und erinnert wohl eher an schlechte Nacherzählungen von Szenen aus Gruselfilmen. Einige Auszüge aus der Akte »OV Johannes« habe ich dokumentiert, in denen deutlich wird, dass wir Bespitzelten seinerzeit immer mit einem Bein im Gefängnis standen. Stasioffiziere verwiesen wieder und wieder darauf, dass es Paragraphen des Strafgesetzbuches gebe, die eine sofortige Verhaftung und Verurteilung ermöglichten. Einzig die kirchenpolitische Situation sorge für Zurückhaltung und Aufschub. Aber wann würde diese Zurückhaltung aufgegeben? Für welchen Fall war eine Verhaftung vorgesehen? Es ist mir auch nachträglich nicht angenehm, lesen zu müssen, ich sei in der Geheimaktion »Sandsturm« oder »Leuchtpunkt« für die »Verbringung« in Internierungslager vorgesehen gewesen.
»Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Halle – Leiter. Geheime Verschlussakte GVS-0047 – BVfS Hle-Nr.: 9/88 Kontrollkennwort: ›Feuerzange‹ Kontrollkenngruppe: ›ffba‹. Zur Realisierung der Maßnahmen der Kennziffer 4.1.1. befehle ich
1. Der Beginn der Aktion › Leuchtpunkt ‹ ist entsprechend Funk/FS, Punkt 1 und 16 Stunden nach Beginn abzuschließen. Die Überführung der festgenommenen Personen in die Untersuchungs-Haftanstalt der Bezirksverwaltung Halle, Am Kirchtor 20a hat in eigener Zuständigkeit zu erfolgen. Es sind alle Vorkehrungen zur Sicherung zu treffen, um ein mögliches Ausbrechen oder Flüchtigwerden zu verhindern.
2. Die Aktion ist schlagartig und konspirativ durchzuführen.
3. Nach Beginn der Aktion hat Ihr Stabschef stündlich telefonisch, erstmals entsprechend Punkt 2 des Funk/FS, an das Arbeitsgebiet spezifisch-operative Fragen des Operativstabesder Bezirksverwaltung zu berichten. Telefon Nummer 2507. Besondere Vorkommnisse im Rahmen dieser Aktion haben Sie unverzüglich meinem 1. Stellvertreter zu melden.
4. Nach flüchtigen bzw. nicht auffindbaren Personen ist eine sofortige Fahndung einzuleiten.
Schmidt Generalmajor«
Der Begriff »Roter Ochse« wird vermieden – dafür heißt es »Am Kirchtor 20a« und die Aktion erfolgt andernorts unter dem Kürzel »K. Z.
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