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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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zersetzen. Glücklich bin ich, dies alles, was auch mich in die Enge treiben und zermürben sollte, überlebt zu haben. Aber trotz dieses Glücks, das nicht alle hatten, beschäftigt, verletzt, erregt es mich doch weiterhin, mit welcher Unverfrorenheit und zugleich Heimtücke das System in mein und in das Leben so vieler Menschen drang. Dieses nach wie vor niederdrückende Empfinden, das mir immer wieder die Ohnmacht, in der man existieren musste, vor Augen führt, kann freilich nicht jenes andere Gefühl, jene andere Gewissheit tilgen: Wie viel haben diese Charakterfieslinge nicht herausfinden können; an wie viel Courage, List und Daseinsfreude sind diese Schnüffler und Beobachtungsbüttel gescheitert; wie viele Momente gelingenden Lebens blieben diesen eisigen, herz- und geistlosen Mechanikern der Rundumkontrolle verborgen. Es gab freies, befreiendes, sinnvolles und unantastbares Leben mitten in diesem Zwangssystem.
    Die sicherlich Gutbezahlten, aber in mehrfachem Sinne soElenden spielten Gott in einer Welt, die nicht ihre war, die sie aber wie einen Besitz behandelten. Sie »verwanzten« das Land, sie machten es im schrecklichsten Sinne durchsichtig, sie bohrten sich gleichsam durch Wände – und doch blieben sie verheerend Armselige, die zudem mit dem Untalent geschlagen waren, das Meiste von dem, was ihnen ihr magerer Wortschatz in die Akten diktierte, überhaupt nicht zu verstehen. Viele Informationen, die man später in den Akten nachlesen konnte, immer zwischen Entsetzen und Ekel, stimmen einfach nicht. Aus eigener Ein-Sicht weiß ich, wie viel da an blanker lügnerischer Projektion aufs Papier gebracht wurde. Es herrschte wohl ein sich ständig selbst erneuernder Mechanismus: Weil ich OV war, wurde gesammelt; weil unaufhörlich gesammelt wurde, blieb ich OV; weil ich OV bleiben musste, wurde noch mehr gesammelt; weil schon so viel gesammelt worden war, durfte die »Arbeitsproduktivität« natürlich nicht gesenkt werden, also wurde weiter und weiter gesammelt. Jeder Spitzelbericht holte sich Legitimation aus dem vorigen und war zugleich so etwas wie der Ruf nach dem nächsten. Dass dabei Leben beschmutzt, dass da fremdes Fleisch und Blut vergiftet wird – was macht das schon, wenn’s um die große gute Sache geht, deren neugeschichtliche Humanität aber auch nur mit Mitteln der Inquisition am dürftigen Staatsleben zu halten war …
    Gewiss funktionierte dieser finstere Apparat auch, weil es tatsächlich Staatsfeinde gab, also reale Gründe für den Bestand einer solchen Institution vorlagen. Und freilich arbeiteten bei der Stasi zahlreiche, in einem abstrakten Sinne intelligente Menschen, sie verfügte über psychologisch geschulte Mitarbeiter. Aber es gab unter den IM eben auch die Gewissenlosen, die bedenkenlosen Spieler, die machtgeilen Gernegroße, die leidenschaftlichen Heimlichtuer – undes gab die Erpressbaren. Zum Beispiel jenen jungen Mann, der eine sehr schwere Kindheit hinter sich hatte, der phasenweise Trinker wurde, mehrfach in Untersuchungshaft geriet, auch ins Gefängnis, quasi ein fortdauernd Vorgeladener, ständig unter Beobachtung, ohne jeden Halt im Leben. Wir haben ihn aufgenommen in unseren christlichen Kreis, in unsere Familien. Ich taufte ihn, eine junge Frau aus unserem Gesprächskreis übernahm das Patenamt. Nachdem er wieder einmal ins Delirium gefallen und dann sogar gewalttätig gegen seine Frau geworden war, hat er sich in der Wohnung selbst vergast. Ich beerdigte ihn auf dem Wittenberger Friedhof. Mitunter hatte er in Gesprächen merkwürdig rechte Gesinnungen an den Tag gelegt. Einmal löste er eine Suchaktion aus. Auf einen Schornstein des Stickstoffwerks Piesteritz war er geklettert und hatte, weit oben, an den Schornsteinrand geschrieben: »Ich liebe dich Silvia«. Beim Herabsteigen hatte er die Stahlleiter mit Schmierseife bestrichen und war für einige Zeit verschwunden. In den Akten musste ich eines Tages lesen, dass er für die Stasi berichtet hatte.
    Oder Marion S., die als IM »Katrin« geführt wurde: Sie war bereits als Siebzehnjährige für den Spitzel-Apparat konditioniert worden. Sie ist 1990 zur Volkspolizei gegangen, das war ihr Herzenswunsch. Sie hat nie einen Freund gefunden, und sexuelle Gefälligkeiten hat die Stasi gelegentlich »mit erledigt«. Eine besonders üble Rolle hat Brigitte W. als IM »Gitte« gespielt. Unschlagbar fleißig im Berichts(un)wesen. Sie verfügte über eine besonders hinterhältig aufgebaute Legende: Wegen politischer Gründe

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