Klar sehen und doch hoffen
nehmen. Auch die Lebensvollzüge neben dem System oder in Absetzung vom System in Kontrastgemeinschaften.
Selbst was Stasimitarbeit anlangt, muss zwischen der alltäglichen Bespitzelung der eigenen Bevölkerung samt der Zersetzung von Menschen und der Tätigkeit der HVA, also der Hauptverwaltung Aufklärung, unterschieden werden. Das war »normale« Spioniererei im Ausland – was bis heute beinahe jeder Staat macht. Und nicht jede Sekretärin und jeder Fahrer, der für dieses Ministerium gearbeitet hat, war deshalb »Stasi«.
Gegen weitere Hysterisierung ist weitere Versachlichung anzustreben. Ein junger Mann, der kommunistisch indoktriniert worden ist und wegen versprochener guter Berufschancen seinen Wehrdienst (»Ehrendienst«) beim Wachregiment »Feliks Dzierzynski« ableistete, ist deshalb noch kein Stasimann. (Ich sag das als einer, der immer eine Abscheu gegenüber dieser mitten in Berlin stationierten Eliteeinheit hatte.)
Die DDR ist nicht hinreichend beschrieben, wenn man von ihr als »zweiter deutscher Diktatur« redet. Wenn wir nicht zur Entdämonisierung gelangen, wird es als Gegenreaktion weiter zu Verharmlosung, zu Nostalgie und Beschönigung kommen. Die DDR auf die Stufe des Juden vernichtenden, einen Raubkrieg entfesselnden Nazismus zu stellen, würde dieses Terrorregime geradezu verharmlosen, indem die SED-Herrschaft perhorresziert wird. Hier ließ es sich besser lebenals Systemgegner, als es ein Schwarzer in Südafrika bis 1990 konnte, besser als es Linken unter Franco oder als es Demokraten unter Ceauşescu, Mao, Pinochet, dem Schah von Persien oder den Diktatoren Mittelamerikas erging.
Wer in die Fänge der Stasi geriet, dem wurde übel mitgespielt. Die Offenlegung der Machenschaften der Staatssicherheit bleibt unabdingbar, einschließlich der Darstellung von deren Einbindung ins SED-System, deren psychologisch ausgefeilten Methoden unter verlockenden Überschriften wie Frieden und Menschheitsfortschritt.
Doch der Kontext der zweigeteilten Welt ist ebenso wenig außer Acht zu lassen wie die Methoden anderer Geheimdienste – bis heute. Im Februar 2012 wurde z. B. in allen Nachrichtensendungen darüber informiert, dass zur Terrorbekämpfung 37 Millionen E-Mails durchsucht worden seien.
Eine durchgängige Personalisierung des Systemproblems führt indes zu lebenslanger Stigmatisierung. Es ist nötig, Strukturanalyse zu betreiben und stets einer Einzelfallbetrachtung den Vorzug zu geben.
Summa summarum: Es darf nicht weiter eine Fixierung auf die Stasi geben. Wir brauchen freilich ausführliche politische Bildung und die Einordnung des Verhaltens von Menschen in den ideologisch-politischen Kontext der gesamten Nachkriegszeit.
Wer die Demokratie bewahren will, muss wissen, was Diktatur anrichtet, um aktiver zu werden beim Schutz unserer Demokratie und bei der Ausübung und Erfüllung unseres Grundgesetzes. Die weitere Herrschaft der Stasiakten über unsere Vergangenheit torpediert im Namen der Wahrheit und der Genugtuung für Opfer die noch ausstehende innere Einheit. Ich stehe für die Doppelthese ein: Versöhnung braucht Wahrheit und Wahrheit Versöhnung.
REISEERLEBNISSE
WIND, SAND UND SCHNELLBOOTE . ERLEBNIS HIDDENSEE
Im Juli 1983 erfüllte sich mir ein Traum: Ich konnte mit der Familie erstmals einen Urlaub auf der Ostseeinsel Hiddensee verbringen – ein für mich bis dahin so wenig erreichbarer Ort wie der Westen. Die Insel, Rügen vorgelagert, war Grenzgebiet; wenn der Tag aufklarte, konnte man vom Strand aus in der Ferne Umrisse der dänischen Insel Moen erblicken. Ich sog diese Schemen einer unerreichbaren Welt geradezu ein, ich versorgte mich mit Sehnsucht, die Träume zogen hinaus aufs Meer; es schien, wenn man die Augen anstrengte und unablässig hinüberschaute, als verringerte sich die Distanz tatsächlich, als käme die Freiheit näher – aber man stand doch nur weiter in der Einsamkeit seiner unerfüllbaren Wünsche, am Strand tummelten sich die Menschen, draußen patrouillierten Schnellboote des Militärs. Uniformen und Badekleidung, das textile Gesicht Hiddensees.
Die Insel, zu Urlaubszeiten fest in der Hand des Gewerkschaftsbundes FDGB, ein Ferienort der Prominenz und sonstiger Privilegierter, einst das Erholungsdomizil von Asta Nielsen, Gerhart Hauptmann und vieler anderer Künstler, war Spiegel der DDR-Verhältnisse und zugleich ein Eiland der Außenseiter, der Binnenflüchter im zugezurrten Land. Hier setzte man sich gern überdeutlich als Aussteiger in Szene, und in
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