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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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»die Arbeit« auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt, auf die Arbeitsstelle nach Ost-West-Flächentarifvertrag: fröhlich zu sein bei seinem Tun.
    Doch auch beim Surfen im Internet, beim Erfinden einer niedermachenden Schlagzeile, beim Kleben eines Wahlplakats, beim Ausstechen des Konkurrenten, beim Verbreiten der Lüge, beim Manipulieren des Menschen, beim Produzieren der Mine, beim Fliegen eines Kampfhubschraubers, beim Kämpfen um die Einschaltquote? Die Entfremdung nimmt ganz neue Formen an und erfordert eine andere Sensibilität und anderen Widerstand.
    Jede Lebenssituation, in der der Mensch sich rührt, in der er etwas aufnimmt, etwas betrachtet, etwas verändert oder gelassen belässt, etwas erhält oder aufbaut, etwas beiseitetut, etwas »schöpft«, etwas besingt, bemalt, betastet – das alles ist »seine Arbeit«. Ich arbeite gern. Ich lasse gern liegen. Was für ein Glück, gelassen sein zu können.
VERRINNENDE ZEIT, AUFGEHOBENES LEBEN
    Alte und jüngere Menschen habe ich sterben sehen und mit anderen zu Grabe getragen. Meinen Bruder Hans-Christoph mit sieben Jahren, eine 34-jährige Freundin, die Mann und vier Kinder verlassen musste, einen Kommilitonen, der sich erhängt hatte, meine 49-jährige Mutter, meinen so anregenden und tiefgründigen Freund Christoph Hinz, alte und lebenssatte Menschen, jüngere Dahingeraffte. Wer das Sterben, wer den Tod nicht verdrängt, lernt die Tage zählen. Meine Tage. Jeder Tag zählt. Gestalte ihn so, dass er zählt. Die Zeit läuft immer schneller. Verrinnend, mich überholend. Meine Tage lassen sich zählen, wiewohl mir ihre Zahl – glücklicherweise – verborgen bleibt. Mein Freund Rolf wurde herausgerissen, ohne jede Vorwarnung. Nur eine Woche Zeit hatte er, alle und alles zu verabschieden. Das kann ich nicht gelassen hinnehmen. Das wird mir Grund für gelegentliche Panik. Nimm das Leben mit allen Sinnen. Manches mache ich noch einmal, einiges zum letzten Mal, anderes nun endlich mal! Die Hinterlassenschaften der Kindheit für die Enkelkinder ordnen – und im Inneren mehr Ordnung schaffen. Die Kilometer, die ich mir mit dem Rad in hügeliger Landschaft für eine Tagesreise vornehme, zähle ich vorher und freue mich darüber, wie viel ich noch schaffe. Das 2. Klavierkonzert von Brahms hören, vor Barlachs Skulpturen schweigen, den Kartoffelbrei rühren, den Sonnenblumensamen in die Erde drücken und warten …
    Mir ist nichts mehr selbstverständlich. Drum ist die Freude groß, noch über alle meine Sinne verfügen zu können. Ich wundere mich, bin erstaunt, werde dankbar. Ich verstehe anders zu genießen und alles zu genießen. Jeder Tag ist so kostbar. Keiner soll verschenkt werden. Es lebt sich intensiver, wiewohl nicht einfacher. Ich will mich nicht mehr treiben lassenund nur das Wichtige wichtig nehmen, Versäumtes wieder reaktivieren, Freundschaften zum Beispiel. Die Tage zählen – nicht aus Angst, sondern in dem deutlichen Wissen um die begrenzte Zeit, um die zu erfüllende, die auszufüllende Zeit. Tote Zeit beunruhigt mich mehr als früher. Ich will noch viel in mich aufnehmen und den Reichtum des Durchlebten in Erinnerung rufen, damit der hinter mir liegende Reichtum präsent wird. Was ganz und gar nicht schön war, wird ein wenig geschönt, aber nicht verleugnet. Was im Beruf zum »täglichen Muss« gehört, das brauche ich nicht mehr.
    »Das muss ich mir nicht mehr antun« – diese modische Floskel spreche ich zwar nicht aus, denke das aber öfter. Vorbei die öden Sitzungen, wo alles Inspirierende ausbleibt! Keine berufsbedingte tote Zeit mit Langweilern mehr. Kein Blatt vor dem Mund, kein Taktieren und endlich das Dumme unbefangen dumm, Dumme beim Namen nennen! Und den Papierkorb mit Ungelesenem füllen. Wie das entlastet!
    Meine Tage zählen: Getröstet und doch unruhig zurückschauen. Nichts ist erledigt.
    Neugierig nach vorn schauen. Demütig die Begrenztheit annehmen. Wie wird es sein, wenn nur noch wenig geht, wenn ich mein Gedächtnis allmählich und unabwendbar einbüße, wenn ich ganz auf die Hilfe anderer angewiesen bin. Heute kann ich noch nicht sagen, wie es mir morgen damit gehen wird und was ich dann tun werde, welche Hilfe ich erbitte. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich bin nicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auch nicht nach der neuen. Ich höre wieder und anders, sehe wieder und anders, schmecke wieder und ganz genauso, fühle, taste, streichele wieder und zum ersten Mal. Wäre die Zahl meiner Tage unbegrenzt, es

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