Klar sehen und doch hoffen
»Prominenten« wie auch mit den zuhörenden und mitdiskutierenden Gästen an jenen Abenden! Welch persönliche Offenheit und kritische Selbstbefragung, welche Rationalität, welche Emotionalität, welch Ernst und welch Humor! Für mich gehören diese Gespräche zu den beglückenden Erfahrungen meines Lebens, die nur in einer offenen Gesellschaft so möglich wurden. Offen füreinander, ohne jeweils teilen zu müssen, was die/der andere meint. Aber verstehen!
OSTELBISCHE UND LINKSRHEINISCHE BEGEGNEN SICH
Im Dezember 1990 sprachen die »roten Winzer« aus der Pfalz der Liedermacherin Barbara Thalheim, der Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe und mir den Martini-Preis für Demokratie zu. Gewiss hat sich kein anderer Preisträger darüber so freuen können wie wir als Zeugen und Akteure einer friedlichen Revolution, die in die Demokratie geführt hatte.
Eine Partnerschaft aus Ost-West-Treffen seit Mitte der 80iger-Jahre in Ostberlin zwischen dem Theologen Volker Hörner und mir war zur Freundschaft geworden, die wir fortan »pflegen und begießen« konnten. Es gehört zweifellos zu den Glücksfällen, dass es Verbindungen aus Mauerzeiten gibt, die nicht nur Bestand hatten, sondern sich in der Freiheit erst richtig entfalten konnten.
Kartoffelleser besuchten fortan regelmäßig die Weinleser, und die Weinleser ließen die Kartoffelleser aus dem Ostelbischenim Linksrheinischen an der Kultur des Weinlesens, des Weintrinkens, der Weinphilosophie teilhaben. Die Verbindungen hatten einen freundschaftlichen, einen geistlichen, einen politischen, einen kommunikativen Zusammenhang und Zusammenklang. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, die Unterschiede und Differenzen nicht etwa auszusparen, sondern freimütig auszusprechen.
Mit Valentin Falin auf der Frankfurter Buchmesse, 1993. Er war Gast meiner Gesprächsreihe »Lebenswege«.
Jede einzelne Zusammenkunft hatte ihr Profil und ihr Unvergessliches. Dem Zweifel wollten wir nicht das letzte Wort lassen, aber auch dem Zweifel Stimme geben. Einige Fragen Brechts aus seinem Gedicht »Der Zweifler« können geradezu paradigmatisch für unser Konzept gelten:
Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden
mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? 69
Anknüpfenund widersprechen. Fragen, was wem nützt. Wer sind wir selbst? Und sind wir stehengeblieben? Wo, warum, mit welchen Folgen? Wie kann die Tradition Sprungbrett bleiben?
2003 erinnerten wir im Lutherhof in Wittenberg an 20 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« und schmiedeten einen Spieß zu einer Sichel. Nächtens trug Hans-Otto Bräutigam etwas von seinen Erfahrungen mit den Wirkungsmechanismen der (internationalen) Politik vor.
»Haben wir uns richtig missverstanden?«, fragten wir uns deutsch-deutsch und spürten beglückt, wie gut wir uns schon verstehen.
Am 13. Februar 1988, vor nunmehr 24 Jahren, hatte ich auf der ersten Ökumenischen Versammlung in Dresden Reflexionen vorgetragen, die in gewisser Weise für unser Denken und Tun bestimmend geblieben sind.
Die Wälder wachsen noch.
Die Äcker tragen noch.
Die Städte stehen noch.
Die Menschen atmen noch.
Noch. Wie lange noch?
Tiefer Weltzweifel greift um sich, krallt sich in uns hinein. Zahlen, Daten, Bilder des Verderbens fallen in die Tiefe unserer Seele. Manche sind schon in Verzweiflung versunken.
Andere sagen: Um diese Welt geht es nicht. Sie vergeht.
Zu viele übersehen, was sie sehen, überhören, was sie hören.
Sie verdrängen die bedrängenden Daten, um zu überleben. Ein wenig, solange es eben geht, nehmen sie, nehmen wir teil an den Segnungen dieses Lebens. Wir leben noch, uns geht es noch gut, uns geht es noch besser, uns könnte es noch besser gehen … Indes: Der Wettlauf zwischen kriegerischer und friedlicher, zwischen sehr plötzlicher und ganz allmählicher Selbstzerstörung wird weitersüdlich durch Verhungern vorzeitig entschieden. Was für uns Gefahr, ist für Millionen schon Realität: elendes Verlöschen. Wir erleben, wie schnell wir vor der Fülle der Probleme kapitulieren, wie leicht wir aufgeben, unser Licht unter den Scheffel der Resignation stellen, wie tief Ohnmachtserfahrung und Ohnmachtsgefühle uns lähmen.
Der Kunstschmied Jörg Hinz schmiedet einen Spieß zum Winzermesser am 20. September 2003
Da wird Hoffnung zur Kraft des Widerstands, selbst dort, wo alle Aussicht versperrt ist. Das Wunder der Wende zum Leben erwarten, dennoch –
das ist Glauben gegen den Augen-Schein,
so wie Noah mitten in der Flut,
wie
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