Klar sehen und doch hoffen
und um unsere Erde als globalisierten Handlungsraum unter enormem Modernisierungsdruck und der Zumutung durch Transformationsprozesse geht. Wir leben fortan in einer »entgrenzten« Welt, in der es keine Rückzugsmöglichkeiten oder sicheren Reservate mehr gibt. Mir leuchteten die Impulse Hans Küngs ein, dass ein alle verbindendes »Weltethos« und ein für alles verbindliches Völkerrecht vonnöten sind.
Die Evangelische Akademie, eine Einrichtung der Kirche, an und mit der sie ihre öffentliche Verantwortung wahrnimmt, war für mich der Ort, um solche Herausforderungen zu thematisieren und, wo immer es möglich war, lokal und global Alternativen ins Gespräch zu bringen. Die gefährliche und befreiende Kraft der biblischen Erzählungen, die nicht aufKatastrophen oder die Apokalypse fixiert sind, sondern die Hoffnung auf eine verbesserliche Welt atmen, waren für mich von März 1992 bis Dezember 2007 Impuls und Maßstab. Von der Themenliste jener 15 Jahre nenne ich beispielhaft: Die Politik als Theater – das Theater der Politik / Dietrich Bonhoeffer und die Ethik des Widerstandes / Die Macht des Bösen – das Böse der Macht / Kein Ort. Nirgends – vom Wiedergewinn der Utopie/Die vielen Namen Gottes – Biblisches Lehrhaus / Deutsche und Russen – eine wechselvolle Beziehung / Die Zukunft des Wassers und das Wasser der Zukunft / Die Macht der Lügen und die Lügen der Macht / Vom Wert der Werte / Das Leid ist der Fels des Atheismus / Heute von Gott reden / Schule des Betens / Bibel als Buch der Weltliteratur / Versöhnung in der Wahrheit / Menschenrechte und Menschenpflichten / Die Seligpreisungen – die Magna Charta der Mitmenschlichkeit / Martin Luther und der Holocaust / Der Glaube des Ernst Barlach/ Kultur und Natur – die Idee des Wörlitzer Gartenreiches. Stets habe ich versucht, den Glauben in der Wirklichkeit zu verorten und den Überschuss des Glaubens aufleuchten zu lassen.
Nahezu monatlich habe ich zu einer Tagung eingeladen, zu der stets ein thematisch gestalteter Gottesdienst in der Predigtkirche Luthers gehörte. Besonders die intensive Partnerschaft mit der Akademie der Pfalz und die Freundschaft mit Volker Hörner halfen uns, die immer noch beschwerlichen Unterschiede frei zu benennen, Spannungen auszuhalten und so an ihrer Überwindung zu arbeiten. Da der Geist – nach Luther – nicht im Trockenen wohnen kann, lernten wir Ostler die Weinkultur und ihre befriedende Kraft schätzen.
DIE LEBENSWEGE ERKUNDEN – DAS LEBENSWERK WÜRDIGEN
Das Wort Dialog gehörte in der DDR zu den ideologischen Un-Worten, zumal seit 1968. Der Staat DDR war ein streng hierarchisches Gebilde, das wegen des alleinigen Wahrheitsund Führungsanspruchs der SED keinen substantiellen Dialog zuließ.
In der Wittenberger Gesprächsreihe LEBENSWEGE (1992 – 2007) habe ich über 200 Zeitgenossen danach gefragt, was war, warum wir so waren, wie wir waren – so redlich wie möglich. Das konnte gehen. Aber nicht mit einem Siegerrefrain. Den andern zu verstehen heißt ja nicht, alles zu teilen, was er sagt, denkt, will bzw. sagte, dachte, wollte.
Gespräche, in denen ein Mensch seine Erfahrungen, seine Ein-Sichten und Absichten vorstellen, in denen er seinen Lebensweg reflektieren und etwas von seinem Lebenswerk verdeutlichen kann, wurden 17 Jahre lang für Zuhörer eine indirekte Quelle der Selbsterkenntnis. Glücklicherweise haben einige europäische Gäste sehr geholfen, die deutsche Perspektive zu verlassen.
»Echter Dialog«, schreibt Martin Buber, »lebt von der rückhaltlosen Hinwendung zum anderen, die ihn in seinem Dasein und Sosein wirklich meint. Er ist lebendige Gegenseitigkeit.« Der Wittenberger Pädagoge Melanchthon meinte gar, wir seien als Menschen »zum Gespräch geboren«. Ich habe 160 dieser Gespräche in acht Bänden dokumentieren können. 68 Die Mischung zwischen Kanzel, Katheder und Kabarettbühne, zwischen Schauspielern und Schriftstellern, Politikern und Ökonomen, Regisseuren und Journalisten, zwischen ostdeutsch und westdeutsch geprägten Biographien hat in der mitteldeutschen Provinz ein breitgefächertes Bild eines Jahrhunderts ergeben.
Dabei sind politisch-literarische STUNDENBÜCHER entstanden, die Orientierungen bieten, bilden und unterhalten, authentisch und deshalb durchaus angriffig sind. Welch ein Reichtum der Erinnerung – ein Zeitpanorama, das dazu herausfordert, sich selber im Spiegel der Gäste zu sehen und unser eigenes Leben (neu) zu bewerten. Hatte ich ein Glück mit den
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