Klar sehen und doch hoffen
wollte und ganz legal dorthin übergesiedelt war, hatte meinen Eltern und mir diese Schulzulassung, inklusive Aufnahme ins Schülerheim, zugesandt – freilich ohne jede Rücksprache mit irgendwem. Als sei das ihr Abschiedsgeschenk: mich quasi heimlich, in einem Akt der listigen Selbstermächtigung, auf einen Lebensweg zu schicken, den zu gehen einem Menschen meiner Herkunft nur auf diese Weise möglich war. Ein Versuch, mich einzuschleusen in eine Volksbildung, die Pfarrerskindern oft genug versagt blieb. Da ich mich ahnungslos auf den Weg gemacht und an jenem Abendin Seehausen müde, abgespannt angeklopft hatte, stellte die Lehrerin den Staat vor vollendete Tatsachen. Man musste sich nun mit mir befassen, so oder so. Die Verhältnisse sahen sich wieder mal gezwungen, kenntlich zu werden.
Meine unverhoffte, an keinem Plan ablesbare Ankunft versetzte das Haus in Aufruhr. Frau Zieron, die Heimleiterin, holte ihren Mann, beide teilten mir entschieden mit, dass ich hier nicht angemeldet sei, also auch nicht aufgenommen werden könne. Ein Irrtum liege vor, ich möge in der städtischen Schule nachfragen. Dass bald die Dunkelheit hereinbrechen würde, störte sie nicht. Sie schickten mich wieder weg.
Die andere Schule hatte gar kein Schülerheim, was also sollte ich dort abends? Wen würde ich überhaupt antreffen? Trotzdem fuhr ich mit Sack und Pack zum Wohnhaus jenes mir genannten Schuldirektors. Er fummelte gerade an seiner Angel herum, fühlte sich also augenscheinlich bei sehr wichtigen Dingen gestört, die ihm alle Aufmerksamkeit abforderten. Er blickte nicht mal auf, als er mir sagte, ich solle doch zum Pfarrer Staemmler gehen, dort könne ich übernachten, und morgen werde man dann klären, was da schiefgelaufen sei. Jedenfalls sei ich auch an dieser städtischen Schule nicht registriert.
Wieder fuhr ich los, war innerlich so durcheinander, dass ich mich mehrmals verfuhr, schließlich nicht mehr wusste, wo ich überhaupt war. Einbrechende Dunkelheit steigerte meine Verwirrtheit. Ein Labyrinth schien mich zu verschlucken. Halb zehn abends kam ich wieder hilfesuchend im Schülerheim an. Nun schien ich die Frau des Direktors zu rühren, mein hilfloser Ausdruck bewegte ihr Herz, sie verwies mich in eines der Zimmer. Wie in Trance, aber erlöst stand ich in einem Zimmer mit acht Betten. Die Welt hatte wieder Wände, an denen sich der Blick festhalten und eine Ordnung ausmachen konnte. In solchen Momenten wächst die Hoffnung, die Dinge gingen gut aus.
Aber kaum hatte ich mein Bett in diesem Zimmer bezogen – zwar unter einem Dach, aber doch noch nicht ganz bei mir selbst angekommen ‒, da riss einer die Tür auf, als wollte er sie aus den Angeln reißen, und rief im Befehlston: »Wer ist hier Schorlemmer?«. Ich stand wie angewurzelt und erwiderte zwischen Mechanik und Erschrecken: »Ich.« Der Kerl im FDJ-Hemd forderte mich auf, das Bett wieder abzuziehen und ihm in ein anderes Zimmer zu folgen. Dort standen nur vier Betten. Und jener türaufreißende Schreihals erklärte sich unumwunden, als sei dies die nötigste wie selbstverständlichste Sache der Welt, zu meinem Bewacher. Dieser Schüler der 11. Klasse, der zur FDJ-Leitung der Schule gehörte, hatte den Auftrag bekommen, mich zu »neutralisieren«. Er warnte mich unumwunden vor Versuchen, religiöse Propaganda zu betreiben. Als sei ich nicht ein Vierzehnjähriger, der sich auf eine gewisse Unschuld berufen darf, sondern ein ausgewiesener Staatsfeind, der eigentlich hinter Gitter gehört und den man demzufolge auch auf freiem Fuße ständig im wachsamsten Blick haben muss. Ich sah mich in meiner Fantasie Luzifer ausgesetzt; mein Eisenbett stand wie ein Doppelbett neben ihm. Sofort verwickelte er mich in eine Debatte, nein, er klagte die Kirche an – wegen Hexenverbrennung und wegen NATO-Bischof Otto Dibelius. Was sollte das werden, wie würde ich das aushalten?
Ich war geradezu der Paria der Schule, der Einzige, der kein FDJ-Hemd trug. Wie umzingelt fühlte ich mich, ausgesetzt einem fortwährenden, unverschämten Spießrutenlauf. Da gab es den Lehrer Mattheier, durch dessen Denunziationseifer mein Vater 1956 beinahe nach Bautzen gekommen wäre. Keine Unterrichtsstunde in Staatsbürgerkunde und Geschichte ließ er verstreichen, ohne die Verbrechen der Kirche anzuprangern; mich trafen seine rhetorische Vehemenz, sein fuchtelnder Wortschatz, sein ideologischer Hass, als seiich die Inkarnation aller Päpste, aller klerikalen Eiferer, aller
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