Klar sehen und doch hoffen
zurücklehnen konnte. Und er hatte nur ein einziges Thema: den Antifaschismus und den Aufbau »unserer neuen sozialistischen Gesellschaft unter Führung der SED in ewiger Verbundenheit mit der Sowjetunion und ihrer ruhmreichen KPdSU«. Mit seiner unverbindlich dahinplätschernden Art unterließ er wenigstens das dogmatische Bellen, das bei diesem Stoff allenthalben durchs Land tönte. Ich hörte ihn reden und dachte daran, dass ich bereits (gehütetes Geheimnis!) das antistalinistische Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder« von Wolfgang Leonhard gelesen hatte und Leute kannte, Schuldige wie Unschuldige, die nach 1945 hinter die Zuchthausmauern von Bautzen gekommen waren. Geschichte hatte sich mir schon eingeschrieben als quasi hauptamtliche Gewalttat, die sich mit hehren Losungen und patriotischen Parolen kaschiert.
An der Schule gab es freilich auch Pädagogen, die mich mit Sympathie und Achtung behandelten. Insbesondere der Physik- und Mathematiklehrer Dreyer, der eines Tages in den Westen abhaute, und sein Nachfolger Dr. Hoffmann, der immer demonstrativ, also für mich äußerst befremdlich, sein Parteiabzeichen trug, behandelten mich mit einem Anstand, dermir guttat, meinem Gemüt aufhalf und mich in der Gewissheit stärkte, dass Charakter letztlich etwas Systemunabhängiges ist. Auch die Deutschlehrerin Ilse Weiß, der ich wohl durch mein Literaturinteresse aufgefallen war, begleitete mich wohlwollend durch diese Schulzeit. Ebenso der Chemielehrer Fischer, der erst später, um Direktor werden zu können, in die Partei eintrat. Er würde eines unerwarteten Tages ausgerechnet mich, den Nicht-FDJler(!), auserwählen, die festliche Schul-Abschlussrede zu halten. Meine erste Rede, zu der ich mich geradezu hinquälte vor Ernst und Aufgeregtheit. Sie schien mir eine Gelegenheit zu sein, diese Zeit des Herumgestoßenwerdens, der Verunsicherung, der ständigen Abwehrkämpfe mit einem einzigen großen Moment, in dem mir alle zuhören müssten, die offen Feindseligen wie die hinterlistig Feigen, in einen Sieg zu verwandeln, in einen Sieg des Rederechts, der Genugtuung, ja der Wiedergutmachung. In dieser Rede 1960 dankte ich für das Erlernte und Erfahrene. Inspiriert von Schillers Freiheitspathos, sprach ich über den Mut zu eigenständigem Denken. Ich glaube mich an Aufmerksamkeit, Stille, Zustimmung und zumindest Staunen erinnern zu können. Gewisslich klang ich anders als der FDJ-Sekretär aus der Abiturklasse, der mit lockeren politischen Attitüden aufwartete.
Der erwähnte Geschichtslehrer Domogalski fuhr 1959 mit unserer Klasse nach Thüringen. Wir besuchten nicht nur die Wartburg, sondern auch Buchenwald. Ehemalige Häftlinge führten uns. Die Bilder und Berichte gingen mir nahe, machten fassungslos: Was der Mensch dem Menschen antut! Am Schluss besichtigten wir die pathetisch aufgerüstete Ettersberg-Gedenkstätte. Die stalinistische Architektur der Denkmal-Anlage offenbarte ihre Ähnlichkeit mit der nazistischen: einschüchternde Wucht, statuarischer Prunk, kolossaler Aufstiegsgeist. In der Schule hatten wir »Nackt unter Wölfen«, das beeindruckende Buch von Bruno Apitz, gelesen; und nunstanden uns die Reste der Baracken, in denen der Roman angesiedelt ist, wahrhaft vor Augen. Auch die Zelle des Pastors Paul Schneider und die speziell ausgestattete Gedenkstätte für Ernst Thälmann. Vom Ettersberg sahen wir hinab ins liebliche Weimar mit seinem Goethe- und Schillerhaus sowie der Herderkirche; davor das riesige Gauforum. Der Stein der Straßen, der Gebäude als das, was uns überlebt. Das bleibende Material, das unberührt bleibt von den Händen, die es berühren, seien es Dichter oder Richter, Denker oder Henker. Und Straßenpflaster, Kieselwege, auf denen der Stiefeltritt der Mörder ebenso wenig einen Abdruck hinterließ wie das Wanken der Opfer. Gedächtnis, das ist der einzige Ort, der bewahrt.
Dieses Thema, der Mensch in der Geschichte, hat mich nie losgelassen, und weil es so überwältigend Hirn und Herz zermartern kann und weil man regelmäßig so erschütternd und kopfschüttelnd vor den Blutauswürfen der Geschichte steht, führt es zu Fragen, die man nicht einfach nur stellen, sondern hinausschreien möchte. Und wo man schreien möchte, neigt man zu Ungerechtigkeit. In der Tonart eines rigorosen Einspruchs, ja eines unversöhnlichen Moralismus habe ich mit fünfzehn (!) meinen Eltern große Vorwürfe gemacht, sie seien nicht gegen Hitler aufgetreten. Es tat ihnen weh, wie ich ihnen da
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