Klar sehen und doch hoffen
eroberungssüchtigen Kreuzritter. Ich stand unter Anklage und die Atmosphäre um mich herum, nähme man sie als menschliches Wesen: Sie feixte und lehnte sich schadenfroh zurück. Ausgerechnet dieser verächtlich Bohrende und Bellende versuchte mir einzureden, ein Blauhemd zu tragen, meinen eigenen Weg zu gehen, mich von meiner bürgerlichen Herkunft zu lösen und eine wissenschaftliche Weltanschauung anzunehmen. Und auch bei ihm wieder dieser geschmeidige Wechsel ins Anbiederische: Bei einem der gemeinsam zurückgelegten Zwei-Kilometer-Fußwege vom Schülerheim zur Winkelmann-Schule riet ausgerechnet dieser Kommunist mir geradezu freundschaftlich-besorgt, ich möge doch nicht weiterhin diese schreckliche Kassenbrille tragen – aus finanziellen Gründen hatte mein Vater mir keine andere zugestehen wollen (oder können).
Für meine guten Noten in Deutsch rächten sich manche meiner Mitschüler mit Spott über mein Ungelenk beim Geräteturnen. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, mich als Außenseiter zu markieren. Wenigstens teilte ich mein vergebliches Schwärmen um eine schöne Seehäuserin mit einigen Mitschülern. Anvertrauen konnte ich meinen Schmerz freilich niemandem. Ich sehnte mich nach dem guten, freundschaftlichen Gespräch mit irgendjemandem, statt dessen versuchte jener Elftklässler, der mir zur Bewachung beigegeben war, mich andauernd in stichelnde Dispute zu verwickeln – über die Kirche, ihre Verbrechen, ihre Unwissenschaftlichkeit, ihre ideologische Westorientierung, ihre himmlischen Vertröstungsillusionen. Er rackerte sich als Einredner und Ankläger ab, uns trennten Welten, nur wollte er nicht anerkennen, dass es eine Welt außerhalb seiner geistigen Ausrichtung überhaupt gab. Für ihn war Pawel Kortschagin der Held, für mich Schillers Don Karlos und der Marquis von Posa.
Sooft es die Zeit erlaubte, verzog ich mich in den nahe gelegenen Park und las, was mich interessierte: Kleist, Schiller, Storm. In den Büchern dieser Autoren wurde mir das Unerträgliche lebbar. Literatur erfuhr ich als Nothelferin; aller Schmerz des Realen wurde auf eine Weise hinnehmbar, die das Traurigsein nicht beendete, aber ihm die Ausschließlichkeit nahm, es beträfe nur mich. In den Büchern war ich nicht belangbar durch den Spott und die Verachtung der anderen. So wie der Organismus im Schlaf nach Träumen verlangt, vielleicht um sich am Leben zu erhalten, so brauchte mein Bewusstsein bei Tage, in der übermäßigen Auflagerung von Feindlichkeiten ringsum, das Erfinden von Visionen, von Partnern. Die Literatur verschaffte mir dieses Gegengewicht; mein Rückzug schien mir keine Flucht, sondern ein Aufschwingen zu sein, ein Ankommen im Ehrenwerten; ich las diese Bücher nicht, ich lebte sie. Lesen war mir ein schönes Abirren aus dem Elendigen, nur freilich gab es stets diese Not der Rückkehr ins Schäbige, Harte, Hinterlistige, und schon damals empfand ich den ewig zwiespältigen Zauber der Kunst: Sie baut seelische Härten ab – in einer Welt allerdings, die solch seelische Härte überall und frech und forsch zur Lebenstechnik erhebt. Aus dem Erleben der Kunst kommt der Mensch stets so gestärkt wie doppelt verletzlich …
In der Klasse fand ich niemanden, der sich für meine Probleme interessiert hätte. Und besagter Stempel, ein Feind des Staates zu sein, wurde mir von zahlreichen Lehrern und bei vielen Gelegenheiten aufgedrückt. Die Atmosphäre an der Schule empfand ich stets als angespannt, von Druck und Misstrauen geprägt. Montags fand ein Appell statt, alle standen im Blauhemd; nur ich war der quasi blinde Fleck im einheitlichen Farbaufgebot der Staatstreue oder zumindest der Anpassungsbereitschaft. Der kumpelhaft-humorig auftretende Parteifunktionär Domogalski, der wahrlich nicht vonpädagogischer Gabe gestreift worden war, wurde uns Vierzehnjährigen als Lehrer für Geschichte und Staatsbürgerkunde vorgesetzt. Ein Mann, der nichts vermitteln konnte und wollte; er war nicht in der Lage, Geschichte wie eine Schatzkammer zu öffnen und einzuladen ins geheimnisvolle, nach merkwürdiger Logik sich vollziehende Menschheitsgeschehen. Nun waren Geheimnis und Unwägbarkeit die allerletzten Kriterien, denen ein sozialistischer Blick in die Geschichte zu folgen hatte, aber noch ein deterministisches Weltbild erlaubt Erzählung und Spannung. Nichts da! Bei diesem Mann gab es nur die Anekdote, die aus einem Lehrer gleichsam einen guten Kumpel der Schüler machte, bei dessen Unterricht man sich wohlig
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