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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Cockpit. Die Maschine fiel augenblicklich so tief wie möglich. Sie bekam »aus Sicherheitsgründen« in Paris keine Landeerlaubnis und flog im Tiefflug bis nach Köln-Wahn. Über eine Stunde drückendes Schweigen und letzte Gedanken … Wir landeten schließlich glücklich. Links und rechts der Landebahn hatten ganze Batterien von Feuerwehrautos uns erwartet. Der Bundespräsident wurde mit einer Maschine derLuftwaffe nach Berlin geflogen, und wir setzten unsere Reise mit einem Passagierflugzeug fort. Bange Stunden ohne Informationen für die Tochter, die mich in Tegel abholen wollte. Erlöst nahmen wir uns in den Arm …
    Ich frage mich natürlich, wie oft ich bewahrt werde – täglich –, ohne es zu wissen. Ich weiß, dass etwas Anmaßendes darin steckt, wenn ich Verse aus einem großen Vertrauenspsalm auf mich beziehe: »Denn ER hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.« (Psalm 91, 11 f.) In der Vertonung von Mendelssohn rührt mich dies tief an, sehr tief – wie alle mit mir in der Stadtkirche in Wittenberg, für die ein solches Konzert mehr ist als Musik. Aber was soll das sein – mehr als Musik?
    Im Mai 2002 wurde mir die Ehrendoktorwürde der Concordia-University in Austin/Texas verliehen. Eigentlich sollte ich sie bereits am 12. September 2001 in Empfang nehmen und am 9. September frühmorgens von Berlin nach New York fliegen … Wegen anderer Verpflichtungen konnte ich den Termin nicht wahrnehmen und vereinbarte den Mai 2002. Vor allem eine Jazz-Nacht in Austin ist mir in Erinnerung geblieben und der Mut von Rektor Dave Zersen, mich dieser als sehr konservativ geltenden University vorzuschlagen. Ich hatte ihn gewarnt, 2002 hatte er denn auch seinen Posten bereits eingebüßt. Auf dem Rückflug über Chicago nach Washington besuchte ich das dortige Luther-Zentrum und war Gast bei dessen Direktor Edgar Schick. Während der nächtlichen Rückfahrt am 16. Mai von einem Empfang der Norwegischen Botschaft nach Baltimore erzählte Edgar mir, dies sei die letzte Fahrt mit diesem Auto, in dem er 10 Jahre lang ohne Unfall oder Panne zur Arbeit und wieder nach Hause gefahren sei. »Klopfen auf Holz«, rief er mir fröhlich zu und klopfte auf die Innenausstattung. Wir wollten zu Hause mitseiner Frau Margaret noch ein wenig meinen 58. Geburtstag feiern. Mitten auf der Strecke gab es einen Riesenknall. Unser Auto wurde auf dem dicht befahrenen Highway an die rechte Begrenzungsplanke geschleudert. Es fräste sich auf meiner Seite in die Planke und kam zum Stillstand. Wir waren in der Falle. Eine Massenkarambolage war zu erwarten. Bange Sekunden, Minuten – wie lang? Die Zeit stand still, während wir wie angewurzelt im Wrack verharrten. Aber kein Auto fuhr auf uns auf, mir immer noch unerklärlich. Bald schon waren Polizei und Feuerwehr da. Der Highway wurde geschlossen. Wir konnten herauskrabbeln, die Polizei fuhr uns bis zur nächsten Ausfahrt. Wir tranken einen Kaffee an der Tankstelle und baten die Ehefrau, uns abzuholen. Alles war gut. Jedes Jahr bekomme ich von ihm seither Post zum 16. Mai. Wegen des geschenkten Lebens für uns beide. Dankbar auszufüllende Frist.
    In der Präsidentenmaschine auf dem Flug von Paris nach Bordeaux, von links: Bärbel Bohley, Bundespräsident Roman Herzog, Jürgen Fuchs, Marianne Birthler, stehend Friedrich Schorlemmer, Ulrike Poppe und Konrad Weiß

MEIN WEG IN DIE KONTRASTGESELLSCHAFT
SELBSTBEHAUPTUNG IN DER UMMAUERTEN PROVINZ

    Die auf den Herren harren,
kriegen neue Kraft, dass sie auffahren
mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden.
    Hoch oben am Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen in Halle fliegen zwei Adler auf die »güldene Sonne« zu. Darunter steht – seit 20 Jahren wieder gut lesbar – jener Leitspruch Franckes aus dem Propheten Jesaja (Kap. 40,31). Neue Kraft kriegen! Harren und hoffen, wie sehr war dies in der DDR zur Aufgabe aller geworden, denen der Staat durch seine ideologischen Vorgaben und Zwänge die Quellen zu alternativer Selbstachtung abzuschneiden versuchte. Auffahren mit Flügeln wie Adler? Das war eine Metapher für die Möglichkeit, Mauer und Stacheldraht ohne Schaden zu überwinden, und matt konnte man schon werden beim täglichen Anrennen gegen die unliebsame Wirklichkeit. Zugleich kein Kriechen in die Nische, sondern Kontrastgemeinschaften bilden.
    Jahrelang bin ich unter diesem Vers, Tag für Tag, das

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