Klar sehen und doch hoffen
Situationen verbunden. Vor allem aber ist es mit Bewahrung verbunden, mit glücklicher Fügung. Als täten jene Flügel ihren Dienst, von denen meine Eltern abends an unseren Betten sangen: »Dies Kind soll unverletzet sein.«
Eine Bewahrungserfahrung liegt sehr weit zurück und blieb mir dennoch ein quälender Lebensstoff: Ich war zwei Jahre alt, lag im Bett, als meine Mutter und meine Tante von betrunkenen Besatzungssoldaten in dem abgelegenen Gehöft bedroht wurden, wo wir zu dritt lebten. Meine Mutter schrie, und mein sofort einsetzendes unbändiges Schreien soll die bewaffneten Männer dazu gebracht haben, von ihrem entsetzlichen Plan abzulassen. Ein Schreien wohl, dessen nervender Ingrimm auch genau das Gegenteil von Rettung hätte auslösen können.
Leben am seidenen Faden. Ich komme immer wieder darauf zurück, wie ich vorm Tode bewahrt wurde, als ich im Kirchturm durch ein zwischen den Balken liegendes Brett brach und zwanzig Meter tief stürzte. Im freien Fall. Folgen des Aufschlags waren einzig schreckliche Prellungen. Nur einen Meter neben den Holzbohlen, auf denen ich landete, lagen alte metallene Gewichte der Turmuhr.
Als Vierzehnjähriger hat mich auf dem Sozius eine Bienein den Rachen gestochen. Mein Vater konnte damals mit dem Motorrad einem Bienenschwarm nicht ausweichen. Zum Glück konnte ich trotz der Riesenschwellung weiter atmen.
1967 lag ich drei Monate im Krankenhaus: Darmkrebsverdacht.
1975 rollte mein Sohn Martin mit dem Kinderwagen in die Saale.
Im November 2011 suche ich die Stelle auf, an der sich das Beinaheunglück ereignet hat. Ich sehe mit erneuter Bestürzung, wie steil und hoch dort der Hang ist, und frage mich, wie ich da hochgekommen bin. Was war geschehen? Aus Angst, die vierjährige Uta könnte beim Steinchenwerfen in die Saale zu nahe an den Abhang kommen, hatte ich die Bremse am Kinderwagen gedrückt und war aufgeregt zu ihr gegangen, etwa drei Meter weiter. In diesem Moment beugte sich der bis dahin apathisch mit Fieber daliegende Martin nach vorn, und der Wagen rollte die Böschung hinunter.
Geradezu fassungslos stehe ich auf dem Weg, erlebe die Angst wieder, dass Uta das Gleichgewicht verlieren könnte, während ich dem Wagen nachrannte. Es waren wohl Zehntelsekunden, die Martin davor bewahrt hatten, in den schwarzen Fluten der Saale zu ertrinken. Sein Kopfkissen schwamm auf dem Wasser, ich stand bis zu den Oberschenkeln im Morast, konnte aber den Wagen mit einer Kraft, über die ich sonst nicht verfüge, ans Ufer hieven, immer wieder zurückrutschend, während oben einige größere Kinder zuschauten. Ich schrie flehentlich, sie möchten mir helfen. Keiner kam auch nur einen einzigen Schritt herunter. Wie angewurzelt standen alle oben, aber auch Uta war glücklicherweise erstarrt. Ich konnte den Wagen schließlich allein hochziehen; unglaublich erleichtert, packte ich die Tochter, setze sie auf meine Schultern, rannte, rannte. Der Modder quadderte aus meinen Schuhen. Uta fing an zu weinen, Martin lief Blut ausder Nase. Meine Lebensangst lief mit. Merkte irgendeiner der Passanten, dass etwas Dramatisches geschehen war?
Selten habe ich mich so einsam gefühlt wie auf jenem Weg, auf dem ich mit letzter Kraft so schnell lief, wie ich konnte. Das in unserem Hause wohnende ältere Arbeiter-Ehepaar half mir beim Baden des Jungen, der bald merkwürdig still wurde und fest einschlief. Nachts ging ich immer wieder an sein Bett. Die Angst verfolgte mich, er könnte vielleicht etwas zu viel von dieser giftigen Brühe aus der Saale geschluckt haben. Meiner Frau erzählte ich von alldem nichts. Am nächsten Abend war alles gut. Ich bin bis heute unendlich dankbar dafür.
Noch 2012 habe ich nachts mehrfach die Szene geträumt , der steile Abhang, der untergetauchte Wagen, das wegschwimmende Kissen. Es schreit aus mir heraus, bis ich davon aufwache. Der Junge ist nun 39 Jahre alt und weiß nichts mehr davon. Doppelte Gnade.
Im September 1989 wurde die Nachricht verbreitet, ich wolle Kommunisten aufhängen. Da wusste ich, dass ich geliefert sein würde. Aber der 9. Oktober verwandelte die Welt.
Mit der Tochter Uta geriet ich 1993 in einen schweren Nordseesturm, der erst sie und dann mich um ein Haar aus dem kleinen Segelboot hinauskatapultiert hätte.
Am 19. Oktober 1996 saß ich in der Präsidentenmaschine mit Roman Herzog, einer Gruppe von Bürgerrechtlern und Journalisten auf dem Rückflug von Bordeaux nach Berlin. Während wir mit ihm sprachen, riss eine Glasaußenscheibe im
Weitere Kostenlose Bücher