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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Hauptgebäude am Morgen durchquerend, die prächtige Haupttreppe hinabgestiegen, nachmittags zurückkehrend wieder hinaufgestiegen, im Widerschein der nun tiefer stehenden Sonne. Franckesche Stiftungen – das hatte sich so großartig angehört. Aus diesem Begriff strahlten Sinn und Engagement, Geist und Würde. Mit gespannter Erwartung fuhr ich am 5. September 1962 mit der Deutschen Reichsbahn (!) mit Sack und Pack nach Halle, zur Immatrikulation. Was die Erwartunggeweckt, was sich die Fantasie ausgemalt hatte, wich schnell einer schockierenden Realität: Der bauliche Zustand dieser Franckeschen Stiftungen war erschreckend, ich zog in die pure Baufälligkeit ein; es schien, als lauere der »real existierende Sozialismus« hämisch hinter jeder Ecke, um den Einsturz dieser klerikal-feindlichen Einrichtung nicht zu verpassen. Dem äußeren Zustand des Hauses entsprachen die kärglichen Lebensbedingungen im Innern. Das war quasi Existenz auf einer Insel, umgeben von einer Welt, die uns verwittern sehen wollte. Und doch selber bis zum Zusammenbruch verwitterte.
    Hier würde ich gemeinsam mit 36 Studenten wohnen, zunächst fünf Jahre im Studium und dann vier Jahre als Studieninspektor. War es Zufall oder Fügung, dass ich mit zwei Studenten in einem Zimmer war, die sehr ähnlich dachten wie ich und auch beide (wir waren die Einzigen) den Wehrdienst verweigert hatten? Das schien mir wie ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit, nach jenem Schicksalsentscheid, der mir einst, in der Mittelschule, einen FDJ-Bewacher unmittelbar ins Nachbarbett beordert hatte. Bei der Immatrikulation, einem formalen Akt, meldeten sich alle, die vorher in der FDJ gewesen waren, problemlos ab, vollzogen ihren Austritt aus dem Staatsverband. Zunächst aber ging es für vier Wochen mit Studenten anderer Fakultäten in den Ernteeinsatz in die Uckermark. Wir Theologen wurden gleichsam neutralisiert, wurden dominiert von künftigen Juristen, die regelmäßig ihre Parteiversammlungen abhielten und die Art und Weise des Einsatzlebens festlegten. Neunzig Prozent dieser Studenten waren bereits SED-Mitglieder. Einige wenige zeigten sich uns »Fremdkörpern« gegenüber ehrlich aufgeschlossen, sprachen vorurteilsfrei mit uns. Es ergab sich sogar einmal eine Grenzüberschreitung, eine (Kartoffel-)»Lesegemeinschaft«. In diesen Wochen lernten wir Theologiestudenten einander näher kennen. Zugleich bildete dieser Einsatz in der LPG mit denStaatstreuen als »Neutralisatoren« eine Art Modell für unseren Stand in der Gesellschaft: Wir waren Misstrauen, betonter Fremdheit, ja Feindseligkeit ausgesetzt. Wir lernten, uns zu wehren.
    Der Beginn des Studiums war für mich – abgesehen vom wunderbaren Theologenball mit einer Uni-Jazz-Band, die im Wesentlichen aus Theologen bestand – eine einzige Katastrophe. Das kleine Latinum hatte ich schon, das große stand mir noch bevor. Und dann dieses Büffeln: Hebräisch und Griechisch. Die Vorlesungen kreisten ohne Unterlass und ohne jeden Einbruch von lebendigem Geist in den vorgegebenen Stoff um alte Kirchengeschichte. Was sollte mir Achtzehnjährigem der (bis heute unbegreifliche) Streit zwischen Arianern und Athanasianern; was sollte ich anfangen mit den Kirchenvätern Origines und Augustinus; was interessierte mich die merkwürdige Kehre Konstantins des Großen, der das Christentum nach dem Scheitern seiner Ausrottung einfach zur Staatsreligion erklärte und im Zeichen des Kreuzes fortan zu siegen sich anschickte; was gab mir das Konzil von Nicäa im Jahre 312 zu denken, zumal eine kritische Bewertung ausblieb. In der sogenannten Einführung in das Neue Testament hoffte ich auf Anleitung zum heutigen Verständnis, aber es blieb bei Übungen zur Methodik der Exegese. Mit einer mich nervenden, quälenden Konsequenz entfernte sich dieses Studium von jeder Brücke zur Gegenwart, es ging wahrlich um eine Buchstabengelehrtheit, die mich nicht nur langweilte, sondern mir das Gefühl gab, mir würde Lebenszeit gestohlen. Ich war unglücklich. Ich fühlte mich in dem, was mein Dasein bislang ausgemacht, geprägt und getrieben hatte, urplötzlich gebremst – und das dort, wo ich doch Erfüllung gesucht, Weite erhofft hatte. Seit dem ersten Tag dieses Studiums fehlte mir, was man Hermeneutik nennt, also das Verstehen schwieriger Texte über den garstigen Graben derGeschichte hinweg. Ich war mit existenziellen Fragen dorthin gekommen, aber man traktierte mich mit alten Sprachen, mittwochs mit Marxismus und sogar mit

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