Klar sehen und doch hoffen
Vertrauen war Energie, die es umzuwandeln galt in eine Kraft, die zurückgab, weitergab. Die Enttäuschung vom Theologiestudium setzte in mir Drang nach Veränderung frei. Ich wollte nicht zu denen gehören, die zwar maulten, aber nicht den Mund auftaten, und über mich ergehen lassen konnte ich das Ganze nicht. Passivität würde alles nur noch unerträglicher machen. Mich bestärkte, dass einige Kommilitonen dieses Studium ebenfalls für dringend reformbedürftig hielten. Wir führten Umfragen unter den Studenten durch, entwickelten daraus Konzepte und konnten Professoren zum Gespräch darüber überzeugen. »Reform-Wochenende« nannten wir diese Diskussion – von den staatlichen Organen beargwöhnt, aber nicht untersagt.
Viel Zeit verwendete ich auf die Unterwanderung der geradezu staubsprühenden Gelehrsamkeit. Im Studium entwickelte ich ein Gespür für das unbedingt zu Absolvierende. Ansonsten las ich lieber das, was mir Studenten aus unseren westdeutschen Partnergemeinden herübergeschmuggelt hatten: Paul Tillich, Karl Jaspers oder Jürgen Moltmann. AlbertCamus, Ernst Bloch, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Marie-Luise Kaschnitz, Günter Eich … Jedes Buch eine Trophäe wider die geistige Windstille, jedes Gedicht ein Schutzschild gegen den ständig herandrängenden Dogmatismus, jeder Essay ein Quäntchen Kraft fürs Widerstehen. Arthur Koestlers außergewöhnlich scharfe Abrechnung mit dem Kommunismus mochte ich freilich nicht teilen.
Häufig ging ich ins Hallesche Antiquariat. Dessen Leiter traf ich auch auf Tagungen der Evangelischen Akademie, zu denen ich als Student so oft wie möglich fuhr, um mich anderen, weiteren Horizonten der Erkenntnis auszusetzen. Der Antiquar gab mir, nachdem er Vertrauen zu mir geschöpft hatte, sogar Bücher, die mit drei Kreuzen versehen waren, also nur mit Sondergenehmigung verkauft werden durften. So kam ich zu »meinen« ersten Texten von Nietzsche. 1965!
Beim Stöbern in der Universitätsbibliothek fühlte ich mich zurückversetzt in jene Stunden, da ich als Schüler unter dem Blätterdach der Bäume lag und las und las. Bücher als Gefährten, aber auch als Gefährt, das mich hinaustrug aus öden Realismen des Tages. Zufällig fand ich in der Bibliothek ein Buch mit lauter Lobreden auf Stalin, herausgegeben nach dessen Tod. Darunter eine Stalinode des ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher. Unerträgliche, verlogene Reimerei über den »allerbesten … Freund der Völker«. Auch jene Schmährede Ulbrichts fand ich, in der er 1958, also nur vier Jahre vor meinem Studienbeginn, eine Reihe von Professoren angegriffen hatte. Sie wurden von ihren Posten gejagt, geradezu zu Aussätzigen gemacht und ein Teil in den Westen getrieben. Ermutigend für uns, dass einige aus dem kritischen »Spirituskreis« in der DDR geblieben waren, darunter fähige Mediziner.
Immer wieder besuchte ich mit Gleichgesinnten die großartige Dauerausstellung der Expressionisten in der Moritzburgund Expositionen mit zeitgenössischer Kunst. Bereits als ich es während einer sonntäglichen Führung durch den Direktor Heinz Schönemann zum ersten Mal sah, hat mich ein Bild besonders in den Bann gezogen: Wolfgang Mattheuers »Kain«. Sofort entspann sich ein intensives Gespräch zwischen Schönemann und mir; wir redeten und redeten, die anderen Besucher hatten sich schon zerstreut. Ich spürte in diesem Moment etwas von dem Zauber, den Kunst auslösen kann, als sei das Leben von einer Sekunde zur anderen ein anderes, als seist du wissender, fühlender, auch ein Ertappter. Der Maler, dessen Name mir bis dahin unbekannt war, hatte ins Bild gesetzt, was in Genesis, Kapitel 4 über die Selbstgefährdung des Menschen steht – jedes Menschen, der ein Messer, ein Gewehr in die Hand nimmt und dessen Blick sich damit automatisch verfinstert. Der in sich selbst verkrümmte Mensch flieht feige nach seiner Tat. Er lässt nicht nur einen Toten, seinen eigenen Bruder, sondern auch Frau und Kind zurück. Im Hintergrund ist auf Mattheuers Gemälde eine Stadt zu sehen – die Stadt als Synonym für Macht, ein Nest der Gewalt, zutiefst und drohend: Undurchdringlichkeit. Wolfgang Mattheuer wurde für mich zum großen, eindringlich parabolischen Chronisten aller (gescheiterten) Utopien des Landes, in dem ich lebte.
In den Räumen der Studentengemeinde traf sich der »Babykonvent«. Das war ein freier Zusammenschluss von Pfarrern, die sich in der Tradition der Bekennenden Kirche sahen, einer Kirche des
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