Klar sehen und doch hoffen
Sport.
Ich rang, wahrlich, nach freiem Atem. Ich musste einen Ausgleich finden. Ich musste mich wehren gegen den Bücherstaub. Ich fand den Ausgleich in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG). Dort hörte ich Bibelarbeiten des Studentenpfarrers Christoph Hinz, die meistens zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten und so tiefgründig waren, dass wir in den Momenten der Wahrnehmung gar nicht alles erfassen konnten, was da an Bewegendem auf uns einstürmte. Hinz’ Manuskripte, die er uns zur Verfügung stellte, wurden mit Schreibmaschine in mehreren Durchschlägen abgeschrieben und dann weiter diskutiert. Das war die geistige Welt, in der ich mich bereichert, herausgefordert fühlte. Die alten Texte kamen nah, das Gegenwärtige hob sich auf in zeitloser Konflikthaltigkeit. In der Studentengemeinde traf ich auch Studenten anderer Fachrichtungen, vor allem Naturwissenschaftler, die die Frage nach Wissen und Glauben umtrieb.
Ein Höhepunkt jedes Herbstsemesters war der Besuch Carl Friedrich von Weizsäckers in der Studentengemeinde. Hier sprach ein Christ, der Atomphysiker und Philosoph war, der in seiner Person Glauben und Erkenntnis zu verbinden wusste, ein Heisenberg-Schüler, der Physik, Philosophie und Theologie in spannende Zusammenhänge setzte. Auch war er ein Zeitzeuge, der uns deutlich machte, unter welchen Gewissensnöten deutsche Atomphysiker in diesem Jahrhundert des Totalitarismus gelebt hatten. Bei Weizsäcker beobachtete ich mit Staunen und Neugier, wie Gelehrte komplizierte Sachverhalte so einleuchtend darstellen können, dass man sie versteht, ohne sie sich selbst angeeignet zu haben.
Ein Problem, das mich in meinem öffentlichen Leben immer wieder beschäftigt hat.
Im Übrigen sei hier vermerkt, dass der Berliner Union-Verlag hin und wieder Bücher veröffentlichte, die ganz und gar der so geschlossenen Staatsideologie widersprachen. 1959 war die kleine Broschüre »Naturwissenschaft und christlicher Glaube« erschienen und 1964 auch Weizsäckers Friedenspreisrede. Da betonte einer, dass die Friedensfrage nicht zu klären ist ohne Antwort auf die Schande der Slums in der Dritten Welt, ohne Antwort auf Abholzung, Abwasser und Abgase. Und dieser Friedensforscher sprach auch über Rechtsstaatlichkeit als Grundlage bürgerlicher Freiheit. Was für ein Gedanke, in der DDR gelesen, wo bürgerliche Freiheit geradezu ein Schimpfwort war. Die Rede gipfelte in einem Satz, der mich als jungen Theologen beseelte, verblüffte: »Das revolutionärste Buch, das wir besitzen, das Neue Testament, ist nicht erschöpft.« Das Neue Testament das revolutionärste Buch? Ja, so wollte ich es verstehen im Lande des Marxismus-Leninismus. Und bei diesem Fanal lebendigen Geistes hätte ich gern studiert! Daher beschränkte ich mich bei den Vorlesungen auf das Allernötigste, hatte meistens etwas zum Lesen dabei, um die Zeit sinnvoll zu verbringen – freilich, vorm Pauken der Sprachen bewahrte mich niemand und nichts. Für eine Ausnahme unter den Lektionen sorgte ein Gastprofessor aus Berlin, Hans-Georg Fritzsche, der unter der Firmierung »Philosophische Propädeutik« eine Geschichte der Philosophie bot, zu der so viele Studenten anderer Fakultäten kamen, dass die Reihe abgebrochen werden musste. Fritzsche verdanke ich Einblicke in den Kosmos der Philosophie und das in einer Gesellschaft, in der eigentlich nur der Marxismus-Leninismus als Philosophie galt, höchstens noch eine kleine Vorläuferschaft von Marx, wobei die Einteilung dieser Denker in Idealisten und Materialisten das entscheidende, fatal banale und falsche Kriterium bildete für wahr und falsch. (Große Hochachtung gewann ich vor demKönnen und dem Mut des Professors für pädagogische Psychologie Friedrich Winnefeld, der nach Angriffen auf ihn öffentlich klargestellt hatte: »Ich bin kein Marxist. Das ist bekannt.« Ich besuchte seine Vorlesungen, und er lud mich später zu seinen Doktorandenseminaren ein.)
Da es an unserer Fakultät damals keine FDJ-Gruppe gab, hatten wir eine eigene Vertretung, den sogenannten Zehnerrat, in den jedes Studienjahr zwei gewählte Vertreter delegierte. In der Studentengemeinde erlebte ich eine Art von Leitung, die mir Vorbild werden würde für demokratische Strukturen überhaupt. Ein Kreis von acht Studentinnen und Studenten (bei etwa doppelter Anzahl aufgestellter Kandidaten) wurde in geheimer Wahl gewählt: Vertrauensstudenten. Vertrauen, das man gleichsam geschenkt bekam, empfand ich stets als Verpflichtung zur Arbeit.
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