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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Studentengemeinde ging, sahen wir etwa zehn Männer gegenüber dem Eingang stehen. In akuter Sorge um die Studenten ging ich auf sie zu und fragte, ob sie auf jemand warteten. Der Leiter sagte nur nein. Ich fragte weiter, warum sie denn nachts im Nebel vor unserer Tür stünden. Darauf der Herr mit scharfer Stimme: »Beunruhigt Sie das?« Diese Antwort wurde bei uns zum geflügelten Wort.
    Symbolischer Mauerdurchbruch am »Abend der Begegnung« zum Kirchentag in der Marktkirche Halle, September 1976
    Welch abstrusem Denken und welch einer verachtenden Sprache die Staatspartei verfallen war, lässt sich an einem Protokoll der SED-Kreisleitung Böhlen ablesen, das mir vom Sohn eines höheren Partei- und Wirtschaftsfunktionärs zugespielt wurde. »Dann ließen sie [die Pfarrer] den Idioten Brüsewitz in Flammen aufgehen, was für die Konterrevolution das Flammenzeichen sein sollte. Danach gab es dann vonder reaktionären Kirchenführung eine ganze Reihe Dokumente, die über die Pfaffen in der Kirche verlesen werden sollten und verlesen wurden, um die christlichen Bürger zur Konterrevolution aufzurufen.« Wir waren also die Gegner, die Konterrevolutionäre. Wir waren verdammt, mit unseren Wahrheiten listig vorzugehen, unsere ehrlichen Gefühle quasi unter Verschluss zu halten. Der Apostel Paulus schärft im ersten Korintherbrief ein: »Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte« (1. Kor. 7,23). Es geht ihm um einen inneren Abstand, der löst, befreit: Also weinen, als weinten wir nicht; uns freuen, als freuten wir uns nicht; kaufen, als behielten wir es nicht, und diese Welt zu gebrauchen, als brauchten wir sie nicht. (Vgl. 1. Kor. 7,29 ff.) Wir konnten den Apostel gut verstehen und fühlten uns ermutigt zur Nachfolge: »Man schmäht uns, so segnen wir; man verfolgt uns, so dulden wir’s; man verlästert uns, so reden wir freundlich. Wir sind geworden wie der Abschaum der Menschheit, jedermanns Kehricht, bis heute.« (1. Kor. 4,12–14) Und wirlebten »als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben« (2. Kor. 6,10). Die Bibelsprache ist unmittelbar und elementar, so tröstlich wie sperrig, so wahr wie hoffnungsvoll. Die Liebe »sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit« (1. Kor. 13,5 f.). Für mich gelten diese Worte auch beim Abrechnen mit der vergangenen Zeit, die keine verlorene war. Unter uns war und ist »aufgerichtet das Wort von der Versöhnung« (2. Kor. 5,19).
    Mich bewegt noch heute der Freimut der Studentinnen und Studenten, die damals in der ESG mitarbeiteten. Jeder thematische Abend begann mit einem gemeinsam vorbereiteten Abendessen und einer Andacht im Dom. Wir versuchten in einer geschlossenen Gesellschaft eine offene Gemeinschaft zu sein, die sich freilich um eine verlässliche, nicht angreifbare Verbindlichkeit ihrer Haltung und Überzeugungen mühte. In meiner Wohnung fanden mehrere Taufseminare statt. Wir feierten im Dom gemeinsam Erwachsenen-Taufgottesdienste. Es gab Lesungen (Stefan Heym, Bettina Wegener, Ulrich Plenzdorf), zweimal habe ich sommerliche Radtouren organisiert. Eine Fahrt mit 25 Teilnehmern führte uns durch die Altmark, eine durchs Saaletal.
    Freundschaft und Erlebnis waren die Schlüssel zur währenden Freude. Mit dem damaligen Jugendpfarrer aus Köln, dem späteren Ratsvorsitzenden der EKD Präses Manfred Kock traf ich mich, sooft es möglich war, während der Frühjahrsmesse in Leipzig. Jedes Mal ein Geschenke-Glück: Bücher, Kaffee, Tee, Kassetten. Die Kölner versorgten uns mit Technik, Abzugspapier, Bastelmaterial. Manfred Kock wurde mein Partner, der bald zum Freund wurde und es bis heute mit seiner Frau Gisela ist.
DIE SPRENGKRAF T EINER ANTIKEN METAPHER
    Als ich nach Merseburg ging, versuchte ich, die Gemeindearbeit und die Arbeit mit Studenten an der dortigen Hochschule »Carl Schorlemmer« sowie Lehrlingen in Leuna und Buna miteinander zu verknüpfen. Samstagsnachmittags lud ich zu Jugendseminaren ein. Auch die Eltern konnten hinzukommen. Was man offiziell produktive Verbindung zwischen »Arbeitern« und »Intelligenzlern« nannte, gelang hier praktisch. Hin und wieder sind wir in umliegende Gemeinden gegangen, um auch auf dem Dorf junge Leute anzusprechen. Das war meist vergeblich.
    Bei seinem Machtantritt hatte Honecker versprochen, nun

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