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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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werde alles noch besser. In der DDR wurde immer nur vervollkommnet, selbst alle Übel. Auf riesigen Transparenten war auf rotem Untergrund in großen weißen Lettern zu lesen: »Was der VIII. Parteitag beschloss, wird sein.« Mich elektrisierte Dürrenmatts Hörspiel »Herkules und der Stall des Augias«, 1968 im Verlag »Volk und Welt« erschienen. Darin wird eine Situation beschrieben, in der nichts mehr geht, wo der Mist immer höher steht und keiner eine Lösung weiß, wie man ihn loswird. Stagnation im Mist. Viele Kommissionen werden gegründet, die wiederum nichts weiter tun als palavern, die Vermistung des ganzen Landes kleinreden. Am Schluss muss König Augias seinem resignierenden Sohn Phyleus gegenübertreten. Er zeigt ihm einen kleinen Garten, den er im Verborgenen angelegt hatte und in dem aus dem Mist Humus wurde. Dies war für mich ein sehr frühes Bild gelingender Konversion. Und ein Bild dafür, dass man sich nicht immer gleich alles vornehmen, sondern aus dem unmöglich Erscheinenden das Mögliche herausfiltern muss. Im Einzelnen und im Kleinen wirken, ohne das Große aus dem Blick zu verlieren. Nicht auf die kleine Tat verzichten, weil der großeWurf nicht – sofort – gelingt. Dass sich die ganze Welt erhelle, das kann man nicht erzwingen. Was man tun kann, ist immer das Eigene. Und Gelingen bleibt eine Gnade.
    Im Frühjahr 1972 übte ich mit Studenten eine Dramatisierung von Dürrenmatts Hörspiel ein. Den Mistkönig Augias habe ich gespielt. Wir wurden mit der Aufführung zu einem Gemeindefest in das Dorf Spergau eingeladen. Die Bauern waren entsetzt, sie fühlten sich beleidigt. Sie konnten uns nicht verstehen, zumal ich zuvor einen Gottesdienst gestaltet hatte zum Thema »Was ist der Mensch?«. In einem Anspiel wurden auch Marx und Nietzsche zitiert. Nach Nietzsche ist der Mensch eine Mischung aus Wurm, Affe und Übermensch. Und was sollte so ein atheistischer Satz von Marx in einer Kirche: »Der Mensch ist für den Menschen das höchste Wesen.«
    Daneben setzte ich natürlich biblische Aussagen über den Menschen. Schließlich ist er ein von Gott geliebtes Geschöpf, gewürdigt in seiner Einmaligkeit. Und zugleich ist er ein Wesen im Widerspruch. »Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich … Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?« (Vgl. Paulus im Römerbrief Kapitel 7, Verse 18 – 25)
    Die Bauern schauten finster und bezogen alles auf sich. Der Gemeindekirchenrat beschloss in der Woche darauf, dass ich die Kanzel jenes Ortes nie wieder betreten dürfe. Warum? Weil ich ein Marx-Zitat verwendet hatte.
    Immer wieder kam ich in den Verdacht, ein verkappter Marxist zu sein, statt die traditionelle christliche Lehre zu verbreiten. Diese Auffassung vertraten meist jene, die sich ihres eigenen Verstandes nicht öffentlich bedienten und ihren Widerstand vor ihren Fernsehern artikulierten. Und die Hüterder einzigen Wahrheit des ML vermuteten in mir einen gerissenen Antikommunisten.
    Als König Augias in Dürrenmatts »Herkules im Stall des Augias«. Ich hatte für die Evangelische Studentengemeinde Merseburg 1972 eine Spielfassung hergestellt. Die Szene zeigt die Sitzung der Ausmistungskommission.
    Noch nach 40 Jahren habe ich bleibenden Respekt vor den Jugendlichen, die mir damals anvertraut waren und die mir trauten. Manche wurden nicht nur fortwährender Vormundschaftlichkeit überdrüssig, sondern aufmüpfig. Ich habe mich je und dann selbstquälerisch gefragt, was ich ihnen für ihre berufliche Zukunft zumutete. Aber ich war froh, dass sie den Mut fanden, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und sich gegen ihre Vormünder aufzuwerfen. Glücklich war ich, wenn sie im Lande blieben und aktiv blieben. Viele konnten sich nach 1989 richtig entfalten.
DER EINSAME MUT EINER ABITURIENTIN
    Mut, so heißt es mitunter, sei fehlgeleitete Angst oder Ahnungslosigkeit, also mangelndes Wissen. Daher würden Menschen, wenn sie ihren Mut in bestimmten Situationen rekapitulierten, im Nachhinein von jenem Schrecken eingeholt, der ihnen zum Zeitpunkt ihres mutigen Eingreifens nicht in den Sinn kam, sie nicht schützte vor der Gefahr. Mag sein. Psychologie rechnet uns stets auch ein wenig herunter auf physiologische Vorgänge jenseits unseres Willens und dessen Freiheit. Gleiche Angst, gleiche Ahnungslosigkeit, gleiches Unwissen? Nach aller Erfahrung

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