Klar sehen und doch hoffen
wurde, das die Unbewohnbarkeit unserer Behausung bestätigte.Dann wies man uns endlich eine andere Wohnung zu. In unserem neuen Quartier in einem sogenannten Treuhandhaus in der Straße der DSF, benannt nach einem der propagandistischen Aushängeschilder der SED, der »Deutsch-Sowjetischen Freundschaft«, waren täglich vier Öfen zu heizen, zum Teil mit Braunkohlendreck.
Im Haus am Neumarkt hatte auch ein älteres Ehepaar gewohnt, das unsere Kinder betreute, wenn meine Frau und ich abends unterwegs waren. Tante Anna wurde zu einer Art Großmutter für unsere Kinder; ihr Mann, Onkel Paul Lange, war ein Altkommunist, der sein KPD-Parteibuch über die Dauer der Nazizeit versteckt gehalten hatte. Für mich war er ein ehrlicher kommunistischer Arbeiter mit einer bleibenden Illusion von einer menschlichen Zukunft, die seine Klasse der Geschichte abringen würde. Bis zu seinem Tode blieb er Mitglied der SED. Hat man ihn »abgeschöpft«? Diese Frage habe ich mir nie gestellt.
DAS WAGNIS EINES DOPPELSPIELS
Natürlich wurde unsere kirchliche Arbeit prinzipiell und regelmäßig beargwöhnt. Die »Staatsorgane« behaupteten allen Ernstes, es sei eine perfide Raffinesse der Kirche gewesen, zur »Verwirrung der Studenten« ausgerechnet an der »Roten Hochschule«, die den Namen des Karl-Marx-Freundes Carl Schorlemmer führte, einen Mann mit dem seltenen Namen Schorlemmer einzustellen. Im Übrigen hieß der GEWI-Professor Heiland und mein katholischer Studentenpfarrkollege Engels.
Bei einem jungen Mann aus der Studentengemeinde hatte ich ein komisches Gefühl; einige Wochen später suchte er mich auf und offenbarte mir seine regelmäßigen Kontakt zur Staatssicherheit. Er erzählte, welche Aufgaben er im Blick aufmich und die anderen wahrnehmen sollte, welche Fragen er in den Diskussionen stellen sollte, um Meinungen auszukundschaften. Ich hatte Vertrauen zu ihm, und wir diskutierten, wie er davon loskommen könnte. Er schlug vor, statt dort auszusteigen, zu den konspirativen Treffs zu gehen und mir gleich hinterher zu sagen, worauf es die Stasi abgesehen habe und welche Studenten sie im Visier habe. Außerdem könnten wir auf diese Weise die anderen Zuträger der Staatssicherheit ausfindig machen. Ich ließ mich auf dieses riskante Spiel ein. Dadurch konnten wir im Zusammenhang mit einem Seminar zu den »Frühschriften« von Karl Marx einen Studenten enttarnen, der ausgerechnet aus meiner Heimatgemeinde in der Altmark stammte. Wir bekamen auch schnell heraus, wer von den Nachbarn unser Haus beobachtete und über alle Bewegungen im Haus und um das Haus herum berichtete: Es war die ältere, freundlich distanzierte Dame, die genau gegenüber wohnte. Diese Erkenntnis schockte mich. Wir entdeckten zwei weitere Mitarbeiter in dieser Gruppe von etwa 30 Studentinnen und Studenten. Ich gab jeweils zu Beginn eines Semesters öffentlich die Parole aus: »Wer von den Sicherheitsorganen angesprochen wird, sagt denen sofort, er oder sie müsse sich mit dem Seelsorger beraten.« In jedem Studienjahr kamen deshalb Studenten und Studentinnen nach Gesprächen in den Räumen des »Sekretariats für Studienangelegenheiten« zu mir, und die Offenlegung der Kontaktsuche sorgte dafür, dass die fremden Herren von weiterer Anwerbung absahen. Die Perfidie der Stasi zeigte sich darin, Studenten zu mir zu schicken, die scheinbar vom MfS bedrängt wurden. Freudestrahlend erzählten sie später, der offene Weg zu mir habe sie aus den Zwängen der »Organe« befreit. So schlichen sie sich ins Vertrauen. Es wurde ihnen leicht gemacht durch mein Prinzip, unsererseits nicht anzufangen, nach Spitzeln zu schnüffeln.
Collage auf dem Deckblatt des Programmheftes für die Evangelische und Katholische Studentengemeinde Merseburg, Frühjahrssemester 1978
Wer zur Studentengemeinde in Merseburg kam, riskierte etwas. Mir ist unvergesslich, wie mir einer unserer intelligentesten Studenten, der Assistent werden und promovieren wollte, gestand: Mit seinem Professor habe er verabredet, während der Promotion nicht in der Studentengemeinde mitzuarbeiten. Das sei den Mühen zur Erringung des Doktortitelsäußerst dienlich. Sobald er die Promotion abgeschlossen habe, würde er wiederkommen. An der Verteidigung nahm eine große Gruppe der Studentengemeinde teil. Und er kam danach in unsere Gemeinde zurück. Die Summa-cum-laude-Promotion hat ihm für die wissenschaftliche Laufbahn nichts genützt, seine Intelligenz und sein Können blieben in der DDR brachliegen. Nun ist er
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