Klar sehen und doch hoffen
Wochenendfreizeiten mit oder trafen sich bei mir zu Hause zu Bibelgesprächen, zu Literaturlesungen, Vertrauenskreis-Sitzungen, Gottesdienst-oder Festvorbereitungen sowie zu Erwachsenen-Taufseminaren. Auch versuchte ich, die Arbeit der Studentengemeindemit der Arbeit der Dom- und Stadtgemeinde zu verknüpfen. Wir waren im Staat nur eine Minderheit – die aber etwas bedeutete! Wie schrieb schon Marx? Das Christentum sei seines Sieges gewiss, aber eben nicht so gewiss, dass es auf die Polizei verzichten könne. Die sozialistische Macht, der wir gegenüberstanden, prahlte so sehr mit ihrer Volksverbundenheit und Siegessicherheit und brauchte doch eine perfide Staatssicherheit, konnte nicht verzichten auf Repression und Zensur. Diese Macht hielt ihre Machtsprüche für Vernunftsprüche, ihre hässlichen Tintenflecke der Agitation für Sonnenflecke und Schläge für schlagende Argumente.
Zu den Mitgliedern unserer Gemeinde zählte der spätere Theatermann Michael Schindhelm. Er gehörte zu jenen Abiturienten, die ihr zwölftes Schuljahr schon an der Hochschule absolvierten – eine spezifische Form der Begabtenförderung in der DDR. Eine wissenschaftliche Kaderschmiede. Schindhelm schrieb in seinem Roman »Roberts Reise« über unsere Zusammenkünfte: »An Schollenmachers Tisch fielen Sätze, die sich schwer mit dem Leben und den Dingen draußen vereinbaren ließen, zumindest mit deren öffentlicher Seite. Wir streiften durch Dorothee Sölles Glaubenswelt, ihre Gedichte in Ormig-Kopien auf den Knien, erfuhren von einer alternativen ökonomischen Konzeption des Sozialismus, an der ein Mitarbeiter im Bereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule arbeitete … Johannes gewann so etwas wie den Rang eines Meisters, er versammelte nicht so sehr Gläubige als flirrende Geister. Zum ersten Mal erlebte ich die energischen Bedrängungen, es einem anderen nachtun zu wollen. Dieser Pfarrer entwickelte Faszination, und ich sah mich schon selbst in einem solchen Haus, umduftet von alten Möbeln, Büchern und Waschmitteln aus dem Westen.«
Plakat zum Jugendtag am 26. Oktober 1976 in Merseburg
Zufälligerweise nennt mich Schindhelm im Roman »Johannes« – das war der OV-Name, den mir die Stasi wegen meinerbesonderen Wertschätzung des vierten Evangelisten seit 1977 zugedacht hatte. Schon damals hatte ich mich gefragt, was dieser aufgeweckte, so vielseitig interessierte junge Mann eigentlich in der Chemie wolle. Michael studierte Quantenphysik im russischen Woronesch und arbeitete nach der Promotion in der Akademie der Wissenschaften in einer Gruppe mit Dr. Angela Merkel zusammen. 1987 gab er die Stelle auf, weil er als Schriftsteller und Übersetzer tätig sein wollte. Nachder Wende wurde er Theaterintendant in Nordhausen, in Gera-Altenburg und dann in Basel. Er muss überall eine vorzügliche Arbeit geleistet haben. Im Jahr 2000 ereilten ihn Vorwürfe, auch er sei IM gewesen. Wer diesen Makel angehängt bekommt, ist erst einmal völlig erledigt. Michael überstand die daraufhin ausgelöste Kampagne relativ unbeschadet, auf Grund des positiven Votums einer »Ehrenkommission« wurde er 2004 zum Generaldirektor der Berliner Opernstiftung berufen. Bis heute ist er ein gefragter Kulturmanager und erfolgreicher Buchautor.
In Merseburg und in den umliegenden Dörfern litt ich mit den Gemeinden, die nur noch wenige Mitglieder hatten. Es kostete viel Kraft, dem Schrumpfen entgegenzuwirken, zugleich musste die Arbeit irgendwie rationalisiert werden. Superintendent Ziegler entwarf einen Plan zur Einteilung in A-, B- und C-Kirchen – das war Ausdruck des Mutes, Kirchen ganz aufzugeben, einige nur notdürftig zu erhalten und in anderen Gottesdienste für eine ganze Region zu halten. Aus bitterer Einsicht in die (auch finanzielle) Not stimmte ich dem zu, obwohl ich wusste, dass manche schwer zum Bleiben in der Kirche zu bewegen sind, wenn ihr eigenes Kirchgebäude nicht mehr gepflegt und erhalten werden kann. Die Kirche im Dorf, dem Dorf lassen – ist mehr als eine Sprichwörtlichkeit.
Drei Jahre lang lebten wir Schorlemmers in dem arg verfallenen Pfarrhaus, das an einer Straße stand, auf der man den gesamten Sandbedarf für den Weiterbau von Halle-Neustadt transportierte. Tag und Nacht. Jedes Mal, wenn ein Lkw vorbeidröhnte, erzitterte das Haus. Es war im unmittelbaren Sinn des Wortes zum Verrücktwerden. Über viele bürokratische Umwege erreichten wir, dass Schall- und Vibrationsmessungen vorgenommen und ein Gutachten gefertigt
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