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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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schlägt die Unwissenheit der Masse, ihre Angst und ihre Ahnungslosigkeit durch. Der Mut der Masse dagegen ist weniger geläufig; eher wird die Masse rasend (gemacht) und übertönt alle Einsprüche der Vernunft. Konsequente Treue zum eigenen Gewissen erfordert Mut. Wenn ich an Mut denke, denke ich an bewussten Mut zur Einsamkeit, wie sie jeden Menschen betrifft und trifft, der sich außerhalb einer Norm stellt, die er nicht mit sich vereinbaren kann. Und ich denke an eine Abiturientin, an Bärbel.
    Anfang 1978 war durchgesickert, dass das Volksbildungsministerium in Absprache mit dem Verteidigungsministerium in den Schulen das Fach Wehrkunde-Unterricht einführen wolle, verbindlich für alle. Auf einer Pfarrerkonferenz Anfang März in Gnadau versuchte ich, alle Teilnehmer zu einem gemeinsamen Protestschreiben zu bewegen. Für mich war es kein Zufall, sondern zynisches Kalkül, dass die Partei im unmittelbaren Vorfeld des ersten, auf höchster Ebene angesiedelten Staat-Kirche-Gesprächs vom 6. März 1978 solche Planungen lancierte. In den folgenden Jahren wurde dieses Treffen stets als Synonym für das sachbezogene, dialogische Verhältnis zwischen Staat und Kirche gewertet. Damit war die CDU in ihrer Scharnierfunktion faktisch ausgehebelt, weil esdirekte Kontakte zwischen den Repräsentanten der Evangelischen Kirche und Mitgliedern der Parteiführung mit Erich Honecker an der Spitze gab. »Den 6. 3. nicht gefährden!« – das wurde zu einer refrainartigen Disziplinierungsformel uns gegenüber und in Kirchenkreisen; bei Wahrnehmung oppositioneller Aktivitäten meldeten sich die Staatsvertreter sofort mit der entsprechenden Warnung. Auf der Konferenz in Gnadau herrschte eine gespannte Atmosphäre. Einige Pfarrer meinten, man könne doch »nicht schon wieder protestieren«, nachdem endlich sachliche Gespräche begonnen hätten. Eine gemeinsame Erklärung zum geplanten Wehrkunde-Unterricht kam nicht zustande. Nur zwei Pfarrer und ich haben mit persönlichen Protestbriefen auf den ministeriellen Plan zur weiteren Militarisierung der Gesellschaft reagiert.
    Eine Schülerin der 12. Klasse aus Merseburg, die selber Lehrerin werden wollte, schrieb nach einem Jugendseminar, bei dem wir uns mit Friedens- und Wehrerziehung beschäftigt hatten, an die Ministerin für Volksbildung Margot Honecker. Sie wolle, so betonte sie in ihrem Brief, dass in den Schulen zum Frieden erzogen und nicht auf den Krieg vorbereitet werde.
    Der Friede war für diese junge Frau der Ernstfall. Zum Ernstfall für die Obrigkeit wurde sie selbst, und zwar äußerst schnell. Die Abiturientin bekam nämlich als Antwort auf ihren Brief eine Vorladung zum Rat des Kreises. Im Verhör saß sie fünf Männern gegenüber: dem Schulrat, dem Schuldirektor, dem Parteisekretär und zwei anonym bleibenden Herren, bei denen klar war, welche Institution sie vertraten. Bärbel wurde in aggressivem Ton gefragt, wie sie denn auf ihren Protestbrief gekommen sei, wer die Hintermänner der Aktion seien, woher sie als Schülerin die Informationen erhalten habe. Die üblichen Tonlagen zwischen Höflichkeit und Schärfe.
    Einige Tage später wurde in Bärbels Schule eine Schülervollversammlung einberufen. Alle Schüler trafen sich bereits eine Stunde vor dem festgesetzten Beginn – außer Bärbel natürlich. Sie war nur zugelassen zur »Vergatterung«. Als sie den ohnehin abweisenden Raum betrat, so erzählte sie später, sei eine eisige Atmosphäre, eine unerträgliche Spannung spürbar gewesen. Auch gut befreundete Mitschülerinnen verfielen plötzlich in eine förmliche Distanz, als stünde ihnen eine Fremde gegenüber. Dann wurde Bärbel mit Fragen bestürmt, ja geradezu umzingelt, Fragen wie Pfeile. Alle Fragen waren vorher an die Mitschüler verteilt worden, die sie nun vom Papier ablasen. Am Ende der inquisitorischen Versammlung wurde einstimmig beschlossen, Bärbel die Eignung für das Pädagogikstudium abzusprechen.
    Damals hatte mich der Stuttgarter RADIUS-Verlag gebeten, für die Textreihe »Assoziationen zu den Psalmen« etwas zum Psalm 43 zu notieren, was Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit haben sollte. Mein Ausgangspunkt war Psalm 43, Vers 1: »Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten.« Ins Zentrum stellte ich Bärbel, hatte ich doch erfahren, was sie erlebt hatte, wie sie in ihrer Bedrängnis bestanden hatte, wie ihre Sache geführt worden war. Damals hatte ich die Namen

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