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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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zugetragen hat.
    Man kann nicht behaupten, dass er im Klassenverband zu den beliebten Mitschülern gehörte. Er wurde eher gemieden, vor allem wegen seiner Steifheit, seines parteiischen Auftretens und der Unverrückbarkeit seiner ideologischen Merksätze, die er am laufenden Band unter die Leute streute.Recht gab ihm die Mehrheit der Schulklasse hingegen in offiziellen Veranstaltungen, unter Anwesenheit des Klassenleiters, des Schuldirektors, des Staatsbürgerkundelehrers. Man muss sagen, zu diesen Gelegenheiten hatte er Recht, denn das Recht war ja in diesem Lande gepachtet von Funktionären, Direktoren, Agitatoren. Ihre Logik lautete: »Wir siegen, weil wir Recht haben. Und wir haben Recht, weil wir siegen.«
    Wer steht schon gern auf der Seite des Unrechts?
    Heute, nach dem Sieg der anderen, haben die von einst demnach Unrecht. Die Logik ist so eindimensional wie damals. Wer steht schon gern auf der Seite der Verlierer der Geschichte?
    Beim vorletzten Weihnachtsfest, das noch in dem gewesenen Land begangen wurde, zog der FDJ-Sekretär das Los mit dem Namen des unbeliebten Offiziersbewerbers. Er wollte es gleich wieder loswerden, doch in der Klasse wollte niemand Wichtel des »Offi« sein – bis die Frage an mich kam. Ich war der Staatsfeind und hatte eine Idee.
    Wie ein Lauffeuer ging die Idee durch die Klasse und löste allseits Lachen aus. Nur der »Offi« wurde ausgespart. Ich machte mir viel Mühe mit dem Geschenk. Im Spielzeugladen kaufte ich einen kleinen Plastepanzer. Ich wickelte und wickelte und wickelte ihn in einen langen Bindfaden, so dass das Geschenk am Ende ganz rund war. Meine Mutter ließ ich auf rotes Papier schreiben: »Nun hast du 25 Jahre Zeit zu überlegen, wie man Luftballons aus dem Panzer steigen lassen kann. Dein Heinzelmännchen«
    Am letzten Tag vor den Weihnachtsferien traf man sich zur Feier. Das Auspacken meines Geschenks musste sich der »Offi« schwer verdienen, denn es dauerte lange, den Bindfaden abzuwickeln. Die Klasse guckte scheel zu. Alle wussten, dass eine Provokation dahintersteckte. Alle wussten, vonwem das Geschenk stammte und dass es demnach nur eine Herausforderung sein konnte. Sein kann.
    Am Ende war der ganze Raum voller Bindfäden und voller Schweigen. Keiner sprach mehr mit mir. Keiner sprach mehr mit ihm.
    Nach zwei Wochen Ferien fing die Schule wieder an. Gleich am ersten Tag wurde ich zum Direktor bestellt. Zwei oder drei Tage später fand eine klasseninterne Gerichtsverhandlung statt. Auf dem Richterpodium saßen der Direktor, der Klassenleiter und der FDJ-Sekretär. Schöffe war der Agitator. Ich saß auf der Anklagebank, an deren entgegengesetztem Ende der Offiziersbewerber die Anklägerposition einnahm. Der FDJ-Sekretär wollte von nichts gewusst haben. Der Agitator beteuerte, die Sache von Anfang an geschmacklos gefunden zu haben. Der Offiziersbewerber war persönlich zutiefst beleidigt und mit ihm die ganze GST und NVA und GOL und FDJ und DDR.
    Er warf mir Verunglimpfung der Roten Fahne der Arbeiterklasse wegen des roten Papiers vor. Er hatte den Bindfaden, den er Strick nannte, ausgemessen und war auf 25 Meter gekommen, die als Symbol für die 25 Jahre Dienens in der Nationalen Volksarmee gemeint gewesen sein sollen. Ich hätte gemeint, der »Offi« solle sich an diesem Strick aufhängen. Auf so viele Deutungsvarianten war ich beileibe nicht gekommen.
    Inhalt und Verpackung waren lediglich ein kleiner, vielleicht etwas unüberlegter Spaß, den ich mir im Sinne der Friedensbewegung erlaubt hatte, der aber als übler Scherz verstanden wurde. Für die empfundene Beleidigung entschuldigte ich mich, denn ich wollte ja niemanden beleidigen, sondern zum Lachen oder wenigstens zu einem Lächeln herausfordern. (Denn das gab es in diesem Land, wie vieles andere, nur selten und deswegen »unter dem Ladentisch«.)
    Der »Offi« nahm die Entschuldigung nicht an. Die Affäre hing drei Wochen in der Luft. Fliege ich von der Schule, fliege ich nicht von der Schule, fliege ich, fliege ich nicht …
    Der Sektorenleiter für Kirchenfragen mischte sich im Hintergrund ein. Der Staatsratsvorsitzende der DDR hatte doch Vorschläge zur Konversion militärischen Geräts gemacht. In der zentralen Satirezeitschrift EULENSPIEGEL war eine Karikatur mit einem Panzer, der Seifenblasen spuckt, und einem Militär, der sich darüber entrüstet, erschienen.
    Nach alldem flog ich nicht von der Schule, sondern kam mit einem Verweis glimpflich davon. So war das in diesem Land.
    Alles hatte

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