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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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heilig sprechen, dann gibt es nur eins:
    Sag NEIN!
    …
    Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:
    Sag NEIN!
    …
    Denn, wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann: …
    dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren … 22

    Diese Schreckensvision sollte im Kampf gegen die Mittelstreckenraketen von 1979 bis 1989 wieder eine besondere Rollespielen. Es gibt Situationen, in denen es keine Kompromisse gibt, sondern nur noch ein Ja. Ja. Nein. Nein.
    Zu meiner Zeit ging es nicht mehr um das deutsche Volk, um Gott und Vaterland, nicht um einen Kaiser oder Führer, sondern propagandistisch um die Zukunftshoffnung der Menschheit schlechthin, den Sozialismus, der nur den Frieden wollte.
    Ich las den Schwur und sagte NEIN zum Ehrendienst bei der NVA und war bereit, alle Konsequenzen auf mich zu nehmen, denn die Bausoldatenverordnung gab es erst seit 1964. Im Vereidigungstext hatte es geheißen: »Ich schwöre, ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren … Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.«
    Unbedingter Gehorsam und Selbstverfluchungsschwur … in mir sagte alles NEIN, NEIN, NEIN.
    Am 13. Oktober 1963 – ich war 19 – hörte ich die Friedenspreisrede Carl Friedrich von Weizsäckers aus der Frankfurter Paulskirche. Ich war gerade zu Besuch bei meinem Studienfreund Peter Marr in Dessau. Das Zentrum war noch immer schwer von den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg gezeichnet. In der Nähe hatten die Junkers-Werke gelegen, die die gefährlichen Stukas produzierten, daher wurde die Stadt besonders häufig bombardiert.
    Der Physiker und Philosoph sprach davon, dass der Friede die Lebensbedingung des technischen Zeitalters sei. Wir würden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfrieden verdient, oder wir würden nicht leben.
    Die bisherige Außenpolitik müsse Weltinnenpolitik werden, und es bedürfe einer Institution, die die Bedingungen des Friedens untersucht und Politik berät. Angesichts der mehrfach garantierten gegenseitigen Vernichtungskapazität müsse man quer durch die Ideologien langsam, behutsam und mit unbeirrbarer Zähigkeit einen Krieg unmöglich machen und dabei die Souveränität einzelner Staaten abbauen, einen solchen Krieg zu beginnen.
    Dann sagte er Sätze, die für mich etwas Elektrisierendes in der Zeit des Kalten Krieges hatten: »Wenn es in unserer Welt noch eigentliche menschliche Freiheit geben soll, so bleibt uns nicht erspart, auch den Raum dieser Freiheit zu planen. Ein Plan ohne Freiheit wird sich in einer fortschreitenden technischen Welt am Ende als unterlegen, ja als funktionsunfähig erweisen ...« 23
    Seine Gedanken über die Ethik verstand ich als Imperativ: »Ihre Grundlage ist nicht neu. Die alte Ethik der Nächstenliebe reicht aus, wenn wir sie auf die Realitäten der neuen technischen Welt anwenden; und wenn wir sie hier nicht anwenden, so ist es uns mit ihr nicht ernst. Das revolutionärste Buch, das wir besitzen, das Neue Testament, ist nicht erschöpft.« 24
    Nächstenliebe in Strukturen, auch in politischen, Bändigung der zerstörerischen Technik, das Umstürzende (hier ist insbesondere die Berg-Predigt gemeint) veranlassten von Weizsäcker, das Neue Testament als das revolutionärste Buch, das wir besitzen, zu qualifizieren.
    In diesem Sinne wollte ich Theologie betreiben, in diesem Sinne wollte ich leben, in diesem Sinne habe ich mich seitdem – glücklicherweise immer in Gemeinschaft mit anderen – für einen Frieden eingesetzt, der sich ebenso der Abrüstung wie der Überwindung der Armut in den Slums und der Abholzung der Wälder, der Folgen der Abgase und der verschmutzten Abwässer widmet. 25
    »Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen«, Linoldruck 1984
    Dass ich dreißig Jahre nach von Weizsäcker den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam, hat mich so beschämt wie gefreut. Ich fühlte damit alle die geehrt, die es nicht

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